Thomas Reiter bei Reparaturarbeiten an der ISS im August 2006. Während seiner Missionen zur Mir und zur ISS führte er mehr als 70 wissenschaftliche Experimente durch und absolvierte drei Außenbordeinsätze.

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Heute koordiniert Reiter die Zusammenarbeit der Europäischen Weltraumorganisation mit anderen Raumfahrtagenturen.

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Kaum jemand auf unserem Planeten kennt die astronautische Raumfahrt aus so vielen Blickwinkeln wie Thomas Reiter. Der studierte Raumfahrttechniker hat selbst insgesamt 350 Tage im All verbracht und zwei Raumstationen besucht: 1995 flog er an Bord einer Sojus-Raumkapsel zur russischen Raumstation Mir, 2006 reiste er mit dem Space Shuttle Discovery zur Internationalen Raumstation (ISS). Zurück auf der Erde verantwortete der Deutsche mehrere Jahre lang die astronautische Raumfahrt der Europäischen Weltraumorganisation (Esa), heute koordiniert er die Zusammenarbeit mit anderen Weltraumagenturen.

STANDARD: Sie haben als Astronaut insgesamt fast ein Jahr Ihres Lebens im All verbracht. Hat das Ihre Perspektive auf unseren Planeten verändert?

Reiter: Absolut. Wenn man die Gelegenheit hat, von außen einen Blick auf unseren Planeten zu werfen, verändert sich etwas – das sind Eindrücke, die sich in die Erinnerung einbrennen. Die Erde präsentiert sich aus dieser Perspektive viel mehr als Einheit, als einem das hier unten bewusst ist. Den Anblick vergisst man nie mehr. Daran muss ich oft denken, zum Beispiel beim Thema Klimawandel und dem Umgang mit den Ressourcen der Erde.

STANDARD: Erst letzte Woche sind wieder drei Raumfahrer von der ISS zurückgekehrt – fiebern Sie da mit?

Reiter: Auf jedem Fall, allein schon, weil ich durch die Esa über die Vorgänge informiert bin. Dann kommt auch immer die Erinnerung, wie ich mich selbst gefühlt habe, als ich nach einem halben Jahr in die Schwerkraft zurückgekehrt bin. Es dauert ein bisschen, bis sich der Organismus daran gewöhnt. Man ist auf der einen Seite glückselig, dass man wieder festen Boden unter den Füßen hat und frische Luft atmen kann. Aber auf die ersten paar Stunden nach der Landung könnte man locker verzichten.

STANDARD: Von Juli bis Dezember 2006 waren Sie Bordingenieur auf derISS. Wie war das im Vergleich zu Ihrer Mission auf der Mir?

Reiter: Damals war die ISS noch nicht so weit ausgebaut wie heute. Wir hatten weniger Platz, allerdings waren wir auch nur zu dritt. Aber es war im Vergleich zum Aufenthalt auf der Mir schon wesentlich geräumiger, auch komfortabler. Was die Durchführung der wissenschaftlichen Experimente angeht, hat man gemerkt, dass da wirklich ein Technologiesprung stattgefunden hat.

STANDARD: Die ISS ist nun seit 20 Jahren durchgängig bewohnt. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse hat das gebracht?

Reiter: Eine Vielzahl, sowohl in der Grundlagenforschung als auch in der anwendungsorientierten Forschung. Ein Beispiel aus der Physik: Da hatten wir ein Experiment, das sich mit sogenannten komplexen Plasmen beschäftigt hat. Da geht es etwa um die Frage, wie sich in der Frühzeit der Entstehungsgeschichte des Universums Galaxien gebildet haben. Es zeigte sich, dass man damit sehr gut die Physik bei Phasenübergängen, also den Übergängen von fest auf flüssig, flüssig auf gasförmig und umgekehrt, untersuchen kann. Die unerwartete Folge war, dass diese kalten Plasmen auch einen medizinischen Nutzen haben: Sie lassen sich sehr einfach erzeugen und haben eine extrem antiseptische Wirkung. Man kann sie etwa für die Beschleunigung der Wundheilung einsetzen oder für die Sterilisation von Operationsbesteck.

STANDARD: Was kann die Medizin noch durch die Raumfahrt lernen?

Reiter: Wenn der Mensch in die Schwerelosigkeit kommt, treten zahlreiche physiologische Effekte auf: Die Regulierung des Blutdrucks nimmt ab, die Versorgung des Gewebes mit sauerstoffreichem Blut wird reduziert, man verliert Kalzium aus den Knochen, das Immunsystem fährt herunter, das Gleichgewichtssystem wird beeinträchtigt. All das passiert auch, wenn Menschen auf der Erde altern. Hier gibt es durch die Raumfahrt wahnsinnig viel Forschung, deren Ergebnisse in erster Linie zu Anwendungen auf der Erde führen.

STANDARD: Die ISS steht für internationale Kooperation und die Überwindung einer geteilten Welt im Kalten Krieg. Seit ihrem Bau in den 1990ern hat sich die weltpolitische Lage verändert – welche Entwicklungen im All zeichnen sich da ab?

Reiter: Die Zusammenarbeit der an der ISS beteiligten Länder und Raumfahrtagenturen ist auf der Arbeitsebene nach wie vor wunderbar. Mehr als 100 Länder sind an der Forschung auf der ISS beteiligt. Das finde ich deshalb so bemerkenswert, weil auch in schwierigen Zeiten so viele Länder gemeinsame Ziele zum Wohle aller verfolgen. Und das wird, zumindest wie sich das momentan darstellt, in den kommenden Jahren so bleiben. Ein Trend geht aber in Richtung Industrialisierung: In der Vergangenheit wurde ein Großteil der Forschung auf der ISS über Steuergelder finanziert, heute nimmt das Interesse der Industrie, diese Umgebung für ihre Forschung zu nutzen, stetig zu. Wir tun bei der Esa alles, um den Zugang möglichst einfach zu gestalten.

STANDARD: Experten gehen davon aus, dass die ISS noch bis Ende des Jahrzehnts genutzt werden könnte. Was kommt danach?

Reiter: Ein Nachfolgesystem wird, denke ich, ein bisschen anders aussehen. Das wird nicht mehr ganz so groß sein – der Betrieb einer solchen Infrastruktur ist ein enormer Aufwand. Es wird vielleicht eine oder mehrere kleinere Stationen geben, die womöglich auch nicht mehr permanent besetzt sind. Ganz wichtig wird auch die Frage sein, wie sich die Zusammenarbeit mit China entwickelt. China wird ja eine eigene Raumstation aufbauen, weil es von amerikanischer Seite politische Vorbehalte bezüglich einer Zusammenarbeit gibt. Es wäre aber ein großes Ziel, zu versuchen, in Zukunft mit einer so im Aufbruch befindlichen Raumfahrtnation wie China im All zu kooperieren.

STANDARD: Sie selbst waren mit der russischen Sojus-Kapsel und mit dem amerikanischen Space Shuttle im All. Würde es Sie reizen, das neue Raumschiff Crew Dragon der US-Firma Space X auch auszuprobieren?

Reiter: Ja selbstverständlich! Ich bin natürlich neugierig, was sich da technologisch weiterentwickelt hat. Wenn man sich in Autos aus verschiedenen Generationen setzt, sieht man, wie die sich in Ausstattung und Elektronik unterscheiden. Natürlich ist das bei den Raumkapseln auch so. Allein der Blick in den Dragon zeigt, dass das alles ein ganz anderes Design ist. Der Vergleich würde mich enorm reizen. (David Rennert, 2.11.2020)