Diskurs ist in der Wissenschaft und Medizin unerlässlich, aber er dürfe sich nicht vor einer unkundigen Öffentlichkeit abspielen, so die Umweltmediziner Hanns Moshammer und Hans-Peter Hutter im Gastkommentar.

Wenn die Zeit drängt, müssen Entscheidungen her: so auch jetzt beim zweiten Lockdown.
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Nach Karl Popper erfolgt der Fortschritt der Wissenschaft über die Widerlegung bestehender Theorien. Oder wie es Konrad Lorenz in Das sogenannte Böse etwas populärer beschreibt: "Für den Forscher ist es ein guter Morgensport, täglich vor dem Frühstück eine Lieblingshypothese einzustampfen – das erhält jung." Obwohl beide primär an die Naturwissenschaften gedacht haben, so gilt das auch für Anwendungswissenschaften wie die Medizin.

Selbstzweifel ist der wissenschaftlichen Methode inhärent. Und wenn einem Wissenschafter oder einer Wissenschafterin die menschliche Größe zum Selbstzweifel fehlt, so zweifelt er oder sie doch zumindest gerne die Ergebnisse der Kollegen und Kolleginnen an. Und auch damit, selbst wenn er oder sie sich unbeliebt macht, erfüllt er oder sie eine wichtige Aufgabe.

Diskurs und Zweifel

Diskurs, Zweifel und Widerspruch gehören zur Wissenschaft. Die Bevölkerung will aber im Allgemeinen Sicherheit. Daher werden widersprüchliche Aussagen von Experten so interpretiert, als würde die Wissenschaft keine rational begründbaren Aussagen machen können. Man verliert das Vertrauen in die Wissenschaft und in Experten. Das ist in der Regel das Ergebnis einer Fehlinterpretation des Diskurses in der Wissenschaft. Zumeist geht es um Fragen, die den materiellen Gehalt einer Aussage gar nicht berühren. Oder es geht darum, welchen Grad an Sicherheit man braucht, um eine Empfehlung zum Handeln abzugeben.

Man muss wissen, dass eine Handlungsempfehlung niemals aus Fakten abgeleitet werden kann. Man benötigt dazu immer eine Aussage über das Ziel. Ein Ziel kann aber nur durch Abwägung von Werten und daher, wenn es um gesellschaftliche Angelegenheiten geht, nur politisch vorgegeben werden. Man muss also auch beachten, dass Wissenschafter beziehungsweise Experten politisch, das heißt, mit Bezug auf die zu erreichenden Ziele, uneins sein können.

Zusätzliche Verunsicherung

Leider sorgen derzeit auch Mediziner für Verwirrung, die sich öffentlich über die Sinnhaftigkeit angeblich überzogener Maßnahmen streiten. Das Gefährliche ist, dass sie oft "richtige" und "falsche" Aussagen vermischen und damit zusätzliche Verunsicherung auslösen. Das Auseinanderklauben dieser Aussagen ist in kurzer Zeit über die Medien praktisch nicht möglich. So bleibt für den Zuschauer nur übrig: "Das ist alles unsicher, selbst die Wissenschaft ist da uneins."

Diskurs ist in der Wissenschaft und Medizin unerlässlich, aber er darf sich nicht vor einer unkundigen Öffentlichkeit abspielen, sondern in den dafür geeigneten wissenschaftlichen Einrichtungen: den Tagungen, Journalen und Foren. Es gibt in vielen Bereichen der Medizin – von Diagnose und Therapie – unterschiedliche Auffassungen, aber es hat noch nie genutzt, einen Diskurs darüber vor der Öffentlichkeit zu führen. In einer Situation, wie wir sie derzeit haben, ist es unverantwortlich, durch derartige Zwischenrufe eine ohnehin oft ratlose Bevölkerung zusätzlich zu verunsichern. Es wäre auch keine gute Idee, am Krankenbett vor einem Patienten über Diagnose und Therapie einen Streit vom Zaun zu brechen.

Eine Frage der Fakten?

Diese "zweifelhafte" Gesellschaft soll nun aus dem Elfenbeinturm heraustreten und die Politik beraten? Beratung soll nicht von Meinungen und Interessen getrieben werden, sondern soll evidenzbasiert sein. Und diese Evidenz soll von der Wissenschaft kommen. Der Ruf nach der Wissenschaft wird besonders dann laut, wenn der Karren bereits ziemlich verfahren ist und wir bis zum Hals im Dreck stecken. Als könnten wir uns mit der Wissenschaft wie weiland Münchhausen selber aus dem Sumpf ziehen.

Dabei ist es meist weniger eine Frage der Fakten, also der Evidenz, als vielmehr eine nach deren Bewertung und Gewichtung. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, eine Risikoabschätzung basierend auf den zu dem jeweiligen Zeitpunkt verfügbaren Daten als Grundlage für Maßnahmenableitungen des öffentlichen Gesundheitswesens vorzunehmen. Deren Bewertung und Gewichtung sollte eigentlich die Politik vornehmen, aber diese überlässt das häufig den Wissenschaftern und Ärzten. Nach den Grundsätzen im Public-Health-Bereich sind im Falle einer Epidemie auch vorsorgliche Maßnahmen zu treffen, selbst dann, wenn die Evidenz zu dieser Maßnahme nicht optimal ist.

In Notsituationen wie jetzt muss auch bei geringerer Kenntnislage eine Entscheidung getroffen werden. Wenn es eine nicht invasive, einfach handhabbare, kinderleichte Maßnahme wie die Verwendung eines Mund-Nasen-Schutzes gibt, kann dies aus vorsorgemedizinischer Sicht auch verantwortet werden. Wenn jeder einen Finger hergeben müsste, würde die Sache wohl anders aussehen.

Primat der Politik

Darauf ständig hinzuweisen, dass es diese 100-Prozent-Evidenz nicht gibt, führt zu Verunsicherung in der Bevölkerung und ist Wasser auf die Mühlen jener, die schon die kleinste Änderung ihres Verhaltens an den Rand ihrer Belastungsgrenze führt. Den "Erfolg" sieht man dann an dem rasanten Anstieg der Infektionen.

Forscher sollten vor politischen Entscheidungen, die auf wissenschaftlichen Tatsachen und deren Deutung beruhen, Gehör finden. Das gilt für alle die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen betreffende Angelegenheiten. Hier finden öfter Lobbyisten Gehör als die Wissenschaft. Klimakrise, Telekommunikation und Biodiversität sind einige Stichworte in diesem Zusammenhang. Aber man muss auch anerkennen, dass letztendlich die Gesellschaft, in unserem System repräsentiert durch gewählte Vertreter, das Primat besitzt, verschiedene Interessen abzuwägen und zu entscheiden, was ihr in einer gegebenen Situation am wichtigsten ist.

Mehr Transparenz

Dass nicht immer der Schutz von Gesundheit und Wohlbefinden insbesondere auch künftiger Generationen im Vordergrund steht, muss man zur Kenntnis nehmen. Wir haben die Politiker gewählt, die das entscheiden. Leider können die künftigen Generationen nicht wählen. Wir würden uns aber freuen, wenn bei politischen Entscheidungen in diesem Kontext mehr Transparenz herrschte und klar gesagt würde, aus welchen Gründen man welche Entscheidungen treffe.

Gerade wenn es um so einschneidende Maßnahmen geht wie jetzt, die bedeutende Eingriffe in die Freiheit der Bürger bedeuten, ist Klarheit und Transparenz unabdingbar. Doch es herrscht weder Klarheit, wie die Maßnahmen zu interpretieren sind (da gibt es jede Menge Spielraum), noch besteht Transparenz, auf welchen Erkenntnissen die Maßnahmen beruhen. (Hanns Moshammer, Hans-Peter Hutter, 2.11.2020)