Lukas Zenk ist Assistenzprofessor für Innovations- und Netzwerkforschung an der Donau-Uni Krems.

Foto: Donau-Uni Krems

Auch bei niedrigen Infektionszahlen kann sich das Coronavirus durch einzelne Superspreader wieder explosionsartig ausbreiten.

Keiner wird ohne Einschränkungen durch die nächsten Wochen kommen, weil das Coronavirus und seine Ausbreitung nur schwer berechenbar sind. Man müsse bei den Berechnungen umdenken, sagt der Netzwerkforscher Lukas Zenk, der zusammen mit Kollegen eine interdisziplinäre Studie publiziert hat.

STANDARD: Warum bekommt man Sars-CoV-2 eigentlich nicht in den Griff?

Zenk: Wir denken, dass man die Situation viel umfassender betrachten sollte. Im Endeffekt sind alle Lebensbereiche, von Gesundheit, Wirtschaft, über Technologie bis Politik, betroffen. Wir haben in unserem interdisziplinären Team versucht, diese unterschiedlichsten Aspekte zu integrieren. Angefangen von biologischen Eigenschaften des Virus und seiner Wirte bis hin zu sozialen Vernetzungen und Gesundheitsversorgungen müssen sämtliche Aspekte bei der Verbreitung bedacht werden, um Lösungen zu erarbeiten.

STANDARD: Wie genau?

Zenk: Die Infektion beginnt mit der physischen Nähe zwischen Menschen. Es geht dabei nicht nur um die direkte Tröpfcheninfektion, sondern aufgrund der Aerosole auch um den Ort, an dem eine Infektion stattfindet. Eine feuchte Aussprache, lautes Sprechen oder Singen in schlecht gelüfteten Räumen über eine längere Zeitspanne: Das sind einige der Hauptdeterminanten der Pandemie. Jeder Einzelne dieser Faktoren lässt sich aber beeinflussen: durch physische Distanz und entsprechendem Schutz, durch die Wahl der Orte und die Dauer des Beisammenseins.

STANDARD: Wie betrachtet das also ein Netzwerkanalytiker wie Sie?

Zenk: Im Alltag geht man oft davon aus, dass jeder Mensch in etwa die gleiche Anzahl von Sozialkontakten hat, also dieselbe Anzahl von Freunden und Kollegen. Aber genau das ist nicht korrekt. Wie wir aus diversen empirischen Studien wissen, ist die Anzahl der Sozialkontakte nicht gleichmäßig verteilt. Wenige Menschen haben viele Sozialkontakte und viele Menschen hingegen wenige. Dadurch verändert sich die Vorstellung von Kontaktnetzwerken, und es macht einen Unterschied, welche Person infiziert ist.

STANDARD: Ließe sich das auf Gruppen übertragen?

Zenk: Wir wissen, dass sich Personen mit ähnlichen Eigenschaften eher vernetzen. Das lässt sich auch bei einigen Berufsgruppen beobachten. Personen mit vielen Kontakten – wie etwa Politiker und Politikerinnen oder Ärzte und Ärztinnen – sind auch stärker miteinander vernetzt. Eine Verbreitung von Viren in diesen Gruppen hätte größere Auswirkungen als in anderen Gruppen, in denen es weniger Kontakte gibt.

STANDARD: Wie wird dann gemessen?

Zenk: Ein allgemein bekanntes Maß ist der Reproduktionsfaktor, der bei dem Coronavirus bei etwa 1,5 bis 3,5 liegt. Ein Mensch steckt also im Schnitt bis zu drei andere an. Ähnlich wie bei den Sozialkontakten ist die Ansteckungswahrscheinlichkeit aber ungleich verteilt.

STANDARD: Also muss man anders rechnen?

Zenk: Genau, mit dem sogenannten Dispersionsparameter. Beim Coronavirus scheint es so zu sein, dass sehr wenige Personen sehr viele Personen anstecken. In den jüngsten Studien dazu wird geschätzt, dass etwa zehn bis 20 Prozent aller Infizierten bis zu 80 Prozent der weiteren Personen anstecken. Diese wenigen sind die Superspreader, die viele andere anstecken. Das ist einer von mehreren Unterschieden zum Influenzavirus, bei dem die Verbreitung eher gleich verteilt ist.

STANDARD: Das macht die Kontrolle schwierig?

Zenk: Der Vorteil von dieser Art von Ausbreitung ist, dass man am Anfang Superspreader und Cluster identifizieren und Maßnahmen setzen kann. Dafür hilft das Contact-Tracing. Bei einer zu hohen Fallzahl ist die Nachverfolgung aber sehr schwierig.

STANDARD: Ist ein Dauer-Lockdown deshalb die einzige Option?

Zenk: Nein, es gibt unterschiedliche Lösungen, die aktuell entwickelt werden. Die Herausforderung besteht darin, in kurzer Zeit schnell auf Veränderungen reagieren zu können und schnell konkrete Handlungen zu setzen. Das Coronavirus zwingt uns aber trotz konkreter Pläne immer wieder auch dazu, teilweise zu improvisieren.

STANDARD: Lässt sich das vorbereiten?

Zenk: Ja. Um professionell zu improvisieren, benötigen wir aber im besten Fall Echtzeitdaten, möglichst viel Wissen und Erfahrungen und schnelle Entscheidungsprozesse. Denn Zeit ist ein wesentlicher Faktor bei einer Infektion, die sich sprunghaft ausbreiten kann. Dafür sind entsprechende Maßnahmen notwendig.

STANDARD: Schwieriges also auch schnell kommunizieren?

Zenk: Die Kommunikation von Maßnahmen und entsprechenden Fakten ist nicht ganz einfach. Es zeigt sich auch, dass viele Menschen sich über soziale Medien informieren. Wie auch beim Virus gibt es im Netz einige wenige Informations-Superspreader, die wiederum von vielen gelesen werden. Leider sind viele dieser Informationen falsch. Die WHO hat das Infodemic genannt, eine Informationspandemie von Fake-News.

STANDARD: Warum ist das so?

Zenk: Das kann unterschiedliche Gründe haben. Politisches Kalkül oder Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Beispiel. Aber es ist auch verständlich, dass sich viele Menschen derzeit unsicher fühlen. Und dann wächst das Bedürfnis nach einfachen Erklärungsmustern. Verschwörungstheorien, auch wenn sie faktisch nicht nachvollziehbar sind, scheinen dieses Bedürfnis zu bedienen. Die schwerwiegende Konsequenz ist, dass dann selbst so einfache Verhaltensregeln wie das Tragen von Masken nicht mehr akzeptiert werden. Und damit verstärken sich diese beiden Superspreadings von Viren und Falschinformationen gegenseitig.

STANDARD: Wie lange wird die Pandemie Ihrer Ansicht nach dauern?

Zenk: Schwer zu sagen. Generell ist das Phänomen des Superspreadings aber eines, welches die Verbreitung von Coronaviren ohne Impfung oder Immunität immer wieder beschleunigen könnte. Denn auch niedrige Fallzahlen werden aufgrund dieser Ausbreitungsdynamik niemals eine vollständige Entwarnung sein.

STANDARD: Ihre Prognose?

Zenk: Zoonosen wie das Coronavirus, das von Tieren auf Menschen übergesprungen ist, werden häufiger werden. Die Weltbevölkerung ist stark gewachsen, der Lebensraum der Tiere zurückgedrängt worden. Durch diese Verdichtung steigt auch die Wahrscheinlichkeit von neuen Zoonosen. Es geht um vollkommen neue Konzepte, darauf hocheffizient reagieren zu können. Denn Zeit spielt bei Pandemien eine entscheidende Rolle. Jetzt und in Zukunft. (Karin Pollack, 5.11.2020)