Markus Gabriel: "Der Gedanke, es werde nur wegen Donald Trump mehr gestorben, ist wissenschaftlicher Humbug."

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Zuletzt besuchte er sogar den absolut stillsten Brüter im Lande, den Reaktor von Zwentendorf. Philosoph Markus Gabriel, vielgefragter "Realist", diskutierte am Wochenende aus Anlass eines Globart-Academy-Panels zum Thema "Macht und Realität" unter anderen mit Ulrike Guérot und Peter Weibel. Ein Gespräch über moralische Dilemmata.

Ausdruck eines "verpesteten Weltklimas" (Markus Gabriel): US-Präsident Donald Trump im Kreise seiner Einflüsterer im Oval Office des Weißen Hauses.
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STANDARD: Wahrt die Verhängung des Lockdowns über unsere Gesellschaften die Verhältnismäßigkeit?

Gabriel: Ob ein Lockdown light, der in Wirklichkeit nicht wirklich light ist, verhältnismäßig ist, entscheiden die Gerichte. Richtig ist, dass wegen des exponentiellen Wachstums eine reale Überforderung unserer Gesundheitssysteme droht, die abgewehrt werden muss. Ein Lockdown kann da die Ultima Ratio sein. Schlecht ist indes, dass wieder die elenden Stereotype und ein Sündenbockdenken auftauchen. Die "Unvernünftigen" sollen daran schuld sein, dass wir einen Lockdown machen müssen. Aber wer sind die denn? Und wieso haben die "Unvernünftigen" im Sommer nicht eine zweite Welle produziert, sondern erst im Herbst? Und wenn die zweite Welle vorhersehbar war, wieso sind wir so schlecht vorbereitet?

STANDARD: Ihre Vermutung?

Gabriel: Es ist Unfug zu glauben, wir hätten die Pandemie im Griff, sie hat uns im Griff, und daran sind nicht die "Unvernünftigen", sondern niemand ist schuld. Weder die Chinesen noch gar die Österreicher oder die Berliner.

STANDARD: Verschafft uns die Corona-Krise Aufschlüsse darüber, ob sich die Politik von Wissenschaft und Philosophie anleiten lässt?

Gabriel: Das Verhältnis der verschiedenen Wissensformen zueinander ist regional stark ausdifferenziert. Was für Deutschland gilt, ist zum Beispiel auf Österreich nicht in derselben Weise anwendbar. Oft ist die Lage von Landkreis zu Landkreis unterschiedlich. Darum ist es eine peinliche stereotypische Rekonstruktion, die bei uns in Deutschland weit verbreitet ist, zu glauben: In den USA sterben erheblich mehr Menschen, weil Donald Trump Präsident ist, der die Autorität der Wissenschaft nicht akzeptiert. Für die praktischen Corona-Schutzverordnungen in den US-Bundesstaaten zeichnet nicht die Trump-Regierung verantwortlich. Der Gedanke, es werde nur wegen Donald Trump mehr gestorben, ist wissenschaftlicher Humbug. Nicht, weil ich ein Fan von Trump wäre; ich freue mich auf die Aussicht, dass er abgewählt werden könnte. Aber hat jemand irgendwann einmal gesagt, in Frankreich werde wegen Präsident Macron gestorben?

STANDARD: Die Macht- sind in Wirklichkeit die Ohnmachthaber?

Gabriel: Politik folgt nicht allein der medizinischen Expertise, das geht schlicht nicht. Würden Sie nur einen Virologen befragen, so würde der Ihnen empfehlen, nie mehr einen Menschen zu treffen, denn das ist die beste Methode, keinesfalls infiziert zu werden. Das wäre jedoch keine akzeptable Lebensform. Daran sieht man: Es ist a priori unmöglich, dass die Macht einzig und allein tut, was die Wissenschaft ihr sagt. Wo das suggeriert wird, haben wir es mit Propaganda zu tun.

STANDARD: Eignet sich Corona als Indikator, der uns anzeigt, was schlecht läuft?

Gabriel: In unseren demokratischen Rechtsstaaten verbreitet sich das Virus als Ergebnis der Handlungsweise von Einzelnen – abhängig davon, wen ich getroffen, wen ich umarmt habe etc. Unser Verhalten kann von Institutionen gelenkt werden, aber eben nicht vollständig. In einem Rechtsstaat kann man die Menschen nicht wie in China zwingen, allein zu Hause zu bleiben. Und das ist auch gut so. Der Gedanke, dass es uns gelingen könnte, in einem demokratischen Rechtsstaat Corona mit den Methoden einer kommunistischen Diktatur auszumerzen, ist illusorisch. Die einzige Art und Weise, eine Pandemie zu beenden, besteht in einer Kombination der Eigenverantwortung von Akteuren, die staatlich nicht zum Handeln gezwungen werden, mit dem medizinischen Fortschritt.

STANDARD: Die Lösung kommt nicht vom Staat?

Gabriel: Das geht in China, nicht jedoch in der freien Welt. Wir müssen lernen anzuerkennen, dass wir frei sind. Das bedeutet, dass an unserer Freiheit, ob uns das gefällt oder nicht, einige Menschen sterben werden! Das ist schrecklich und tragisch, aber der Preis unserer Freiheit. Wir verbieten auch den Alkohol nicht, obwohl jährlich viele tausend Menschen an ihm zugrunde gehen.

STANDARD: Die Verantwortlichkeit des Individuums führt uns zur Frage, wie wir uns miteinander verständigen. Sie geben sich in Ihrer Philosophie nicht mit der Feststellung zufrieden, dass vernunftbegabte Wesen konsensfähig sind. Demgegenüber sprechen Sie einem Realismus das Wort: Egal wie verschieden wir sein mögen, sind doch unsere Unterschiede real.

Gabriel: Das allein wäre noch zu wenig. Wenn wir uns darauf verständigen, dass die unterschiedlichen Perspektiven, die wir einnehmen, für sich besehen real sind, so setzen wir zu spät ein. Der beste Grund dafür, zu glauben, dass man in Wien ist, besteht darin, in Wien zu sein! Dafür gibt es keine "diskursive" Ursache, nichts, worauf wir uns vorab verständigen müssen. Ich kann, wenn wir zu zweit durch Wien spazieren, Sie vielleicht auf Straßenschilder aufmerksam machen. Zweifeln Sie dann immer noch, habe ich es mit einem Wahnsinnigen zu tun. Philosophisch ausgedrückt: Die kommunikative Vermittlung der komplexen Akteure ist in einer objektstufigen Wirklichkeit verankert.

STANDARD: Jemand wie Jürgen Habermas überschätzt den kommunikativen Konsens?

Gabriel: Erst die handfesten biologischen Tatsachen bilden die Grundlage für die Verständigung. Das Virus ist das Virus. Erst aufgrund dessen können wir beispielsweise sagen, das Handeln von Donald Trump sei in einem demokratischen Rechtsstaat moralisch verwerflich, weil er etwas, was keiner weiteren Diskussion bedarf, infrage stellt. Richtig ist, dass man die Pandemiebekämpfung in einem demokratischen Rechtsstaat infrage stellen kann; nicht aber das Virus. Das verwechselt wiederum Donald Trump. So wie er verwechseln viele die Wahrheit mit dem Konsens, den eine Gruppe über sie herstellt.

STANDARD: Wird unsere Gesellschaft geschwächt aus der Corona-Krise hervorgehen?

Gabriel: Das hängt davon ab, ob das Weltklima weiter verpestet wird. Der bittere Beigeschmack von Corona ist die Präsenz von Akteuren wie Putin, Trump und Xi Jinping. Der größte Raum des Planeten wird dominiert von Diktatoren. Trump ist natürlich formaliter kein solcher, kann aber zu einem solchen mutieren, überhaupt jetzt, nach der Neugestaltung des Supreme Courts. Ich würde behaupten: Bei einer zweiten Amtszeit Trumps würde eine dritte für ihn zum Thema werden.

STANDARD: Und bei einem Wahlsieg Bidens?

Gabriel: Eine Wiederherstellung der alten Westallianz wäre auch mit ihm illusorisch. Ich bin Bonner und durch meine Kindheit Westeuropäer durch und durch. Aber wir müssen den Osten stärker einbeziehen in die Idee einer progressiven Moderne. Das gelingt nur, wenn wir die atlantische Nostalgie überwinden. Wir haben es seit jeher geliebt, moralisch im Schatten des großen Bruders Amerika zu existieren. Doch der große moralische Bruder ist tot. Biden sollte man nicht seine Wiederbelebung zutrauen. (Ronald Pohl, 3.11.2020)