In Kirchen dürfen laut Lockdown-Verordnung nach wie vor Gottesdienst gefeiert werden. Für die Gläubigen soll es laut Verantwortlichen dennoch verschärfte Maßnahmen und mehr Online-Messen geben.

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Der Verfassungsgerichtshof hat der Regierung in der Pandemie wiederholt Denkzettel erteilt: Tiefgreifende Einschnitte in die Grundrechte und Freiheiten der Bevölkerung müssen transparent begründet werden. Es reicht nicht, Verordnungen nur in Pressekonferenzen lapidar zu kommentieren. Es braucht vielmehr eine nachvollziehbare Erläuterung, warum bestimmte Beschränkungen erforderlich und verhältnismäßig sind. Andernfalls droht erneut eine Aufhebung der Verordnungen durch das Höchstgericht.

Mit Dienstag wird ein zweiter Lockdown verhängt, und die Regierung will beweisen, dass sie aus den juristischen Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) hat daher dem Hauptausschuss des Nationalrats, der seine Verordnung am Sonntag mit türkis-grün-roter Mehrheit abgesegnet hat, umfangreiche Unterlagen zu Untermauerung des Lockdowns übermittelt. Wobei die Oppositionsparteien beklagen, dass ihnen das Konvolut zu kurzfristig und unübersichtlich dargebracht wurde. Ein beigefügtes 16-seitiges Papier des Gesundheitsministers liefert allerdings die Kernargumente für Ausgangsbeschränkungen, Betretungsverbote und Co. Ist der Herbst-Lockdown damit juristisch angemessen gerechtfertigt?

Schlüssige Grundlage für Verordnung

Alles in allem sei das Papier eine "passable und schlüssige Grundlage", befindet Verfassungsjurist Peter Bußjäger. Die meisten Aufhebungen von Corona-Maßnahmen aus dem Frühjahr seien ja nur deshalb erfolgt, weil das Ministerium – überspitzt gesagt – einen leeren Begründungsakt mitgeliefert hätte. Das sei diesmal nicht der Fall. Anschobers Ressort habe auch mit Zahlen und Prognosen argumentiert, also mit dem starken Infektionsgeschehen und der dramatischen Aussicht auf einen Kollaps der Intensivbettenkapazität Mitte November. Manchen Punkt aus dem Papier finden Juristen gleichwohl hinterfragenswert.

Gnade für Gläubige

Einer davon ist, dass religiöse Veranstaltungen weiterhin wie gewohnt stattfinden dürfen. Den Religionsgemeinschaften wird bloß empfohlen, von sich aus die Regeln zu verschärfen. "Wenn man im Kopf hat, wie viele Cluster etwa auf Freikirchen und andere zurückzuführen sind, da kommt mir die Aussage der selbstständigen Wahrnehmung entsprechender Schutzmaßnahmen im Papier ein bisschen locker dahergesagt vor", sagt Bußjäger. "Diese Privilegierung der Religionsausübung ohne irgendwelche Begleitmaßnahmen sehe ich kritisch."

Gottesdienste stark reduziert

Ein Rundruf des STANDARD bei Religionsgemeinschaften am Montag ergab indes, dass sich diese schon vor Inkrafttreten der Verordnung einige Verschärfungen selbst bzw. in Absprache mit dem Kultusministerium auferlegt haben. So entfallen alle religiösen Feste wie etwa Hochzeiten in den Kirchen und in der Israelitischen Kultusgemeinde. Das berichteten der steirische Bischof Wilhelm Krautwaschl und der in Graz und Wien tätige Rabbiner Schlomo Hofmeister. Ebenso bleibt in Kirchen und Synagogen jede zweite Reihe frei, und man muss 1,5 Meter Abstand zueinander einhalten. Gottesdienste werden zeitlich auf ein Minimum reduziert. Das gilt auch für die evangelische Kirche. Christliche Gemeindegesänge oder Chöre werden komplett verstummen. In allen 21 Wiener Synagogen müssen Funktionsträger einen negativen Test vorlegen. Zusätzliche Maßnahmen wie Mundnasenschutz während des Gottesdienstes gelten auch bei negativem Testergebnis. In Graz werden überhaupt keine synagogalen Gottesdienste gefeiert und Onlineangebote werden ausgebaut.

Arbeiten trotz positiven Tests?

Jurist Bußjäger äußert aber auch noch weitere Bedenken: etwa dass künftig das Gesundheitspersonal in Spitälern und Pflegeheimen laut Verordnung trotz eines positiven Corona-Befunds weiter arbeiten können soll. Mit einem medizinischen Gutachten muss dafür nachgewiesen werden, dass die Person nicht mehr infektiös ist. "Dieses Vorhaben finde ich in dem Papier des Ministers nicht begründet", sagt Bußjäger. Es sei zudem widersprüchlich, denn mit der gleichen Begründung könne man auch den Volksschullehrer mit medizinischem Gutachten weiter arbeiten lassen. "Da würden alle meinen, dass das keinen Sinn macht", erklärt der Verfassungsjurist. Man könne zwar argumentieren, dass der Spitalsmitarbeiter in einer Pandemie notwendiger sei als der Lehrer. "Nur verbleibt da ein ungutes Gefühl, gerade wenn das medizinische Personal mit vulnerablen Gruppen zu tun hat", sagt Bußjäger. "Das Sachverständigengutachten schaue ich mir an, in dem sich ein Mediziner traut, jemanden trotz eines positiven Befunds ins Pflegeheim zu schicken."

Über diesen Punkt entbrannte bereits eine heftige Diskussion. Die "Offensive Gesundheit", ein Zusammenschluss von Gewerkschaften sowie Arbeiter- und Ärztekammer, warf dem Gesundheitsminister vor, damit "vorsätzlich" Patienten zu gefährden. Anschober versuchte prompt zu kalmieren: "Es wird niemand arbeiten, der ein aktives Infektionsgeschehen hat", sagte er. Man werde kein Risiko eingehen.

Wenig Belege für Cluster in Gastro und Kinos

Dass die Regierung das Gastgewerbe generell und nicht nur die Nachtgastronomie schließt, sorgte bei vielen für Unverständnis. Das große Cluster-Aufkommen habe es dort nicht gegeben, sagen Wirte. Auch das Gesundheitsministerium räumt ein, dass sich die Tagesgastronomie "nur vereinzelt als Ansteckungsquelle herausgestellt habe". Aber man habe schlicht den Überblick über das Infektionsgeschehen verloren, 70 Prozent der Fälle seien nicht mehr rückverfolgbar. Die Registrierungspflicht und die Vorverlegung der Sperrstunde in den Ländern hätten die Ausbreitung des Virus auch nicht effektiv verlangsamt, heißt es. Unter diesen Voraussetzungen würde Bußjäger im Zweifel die Verschärfungen durchgehen lassen.

Bei der Schließung von Kinos, Theatern und Museen verwendet die Regierung eine ähnliche Argumentation wie bei den Lokalen: Auch dort hat man keinen Nachweis für erhebliche Cluster, doch dies könnte wiederum auf dem Versagen des Contact-Tracing beruhen, man könne das Infektionsgeschehen schlicht nicht mehr genau verorten. Jedenfalls komme es in Freizeitbetrieben zu einem Zusammenströmen verschiedenster Menschen und dadurch womöglich zur Weitergabe des Virus.

Bei den Museen war ursprünglich allerdings geplant, sie offen zu halten, weil sich die Besucher gut auf die Räume verteilen können. Juristen hatten dann aber intern laut STANDARD-Recherchen bezweifelt, dass eine Ausnahme für Museen beim Höchstgericht halten würde, zumal es eine Ungleichbehandlung von Freizeiteinrichtungen bedeutet hätte. Um kein Risiko beim VfGH einzugehen, wurden Museen folglich auch geschossen. (Theo Anders, Jan Michael Marchart, Colette Schmidt, 2.11.2020)