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Wir werden immer älter, schon bald geht die "Babyboomer-Generation" in Pension. Wie kann die Pflege von immer mehr Menschen gemeistert werden?

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Angelika Tretthahn hat viel zu tun. Sie muss den Bewohnern beim Duschen, Anziehen und Gehen helfen, mit Angehörigen sprechen und daneben ihr Masterstudium der Pflegewissenschaft beenden. "Durch Corona ist die Arbeit noch mehr geworden", sagt die 30-Jährige, die als Pflegerin im Pensionistenwohnhaus Maria Jacobi in Wien arbeitet. "Seit Corona werde ich zwar mehr beklatscht und gelobt, es kommt mehr Wertschätzung. Das erleichtert aber nicht die Arbeit."

Tatsächlich wurden Pflegerinnen wie Tretthahn am Beginn der Corona-Krise wie Heldinnen gefeiert. Dabei ist die Pflege in Heimen im österreichischen Pflegesystem eher die Ausnahme: Rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt – nicht von professionellen Pflegern, sondern meist von den eigenen Angehörigen, und von diesen vor allem von Frauen. Während die Corona-Krise teilweise zu Engpässen bei der 24-Stunden-Betreuung geführt hat, brodeln darunter längerfristige Herausforderungen – allen voran der wachsende Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung. Wie stemmen wir die Pflege von immer mehr Menschen? Fünf Fragen für die Zukunft.

Eine Frage der Organisation?

Kaum ein Begriff findet so breite Verwendung wie die Pflege. Der Bereich ist ein Flickenteppich aus pflegenden Angehörigen, 24-Stunden-Betreuern, Alten- und Pflegeheimen, mobilen Diensten und der Pflege in Krankenhäusern. Rund 450.000 Menschen in Österreich sind amtlich anerkannte Pflegefälle. Das heißt, dass sie die täglichen Aktivitäten nicht mehr allein schaffen und mehr als zwei Stunden täglich Hilfe benötigen. Die Mehrheit davon will zu Hause bleiben. In 45 Prozent der Fälle werden sie allein von Angehörigen gepflegt, rund ein Drittel bekommt Hilfe von mobilen Pflegediensten, fünf Prozent eine 24-Stunden-Betreuung.

"Das größte Problem ist, dass wir Pflege nicht als das sehen, was sie ist", sagt der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer. "Anstatt zu warten, bis Menschen pflegebedürftig sind, sollten wir schon frühzeitig versuchen, Gebrechlichkeit und Alter als ‚Krankheit‘ zu erkennen." In Österreich sei das Pflegesystem aber gänzlich vom Gesundheitssystem getrennt. "Im Gesundheitssystem wird vor allem auf die Akutversorgung gesetzt, andere Bereiche, wie etwa die Nachsorge, werden oft vernachlässigt. Besser wäre es, die Pflege als integrierten Bestandteil des gesamten Gesundheitssystems zu sehen."

Als Vorzeigebeispiel nennt Pichlbauer Dänemark. Während in Österreich 22 Prozent der über 65-Jährigen pflegebedürftig sind, seien es in Dänemark nur acht Prozent. "Das bedeutet, dass die Dänen im Alter länger gesund sind", sagt Pichlbauer. Möglich sei das, weil Menschen dort schon frühzeitig Unterstützung erhielten, zum Beispiel in Form von Einkaufshilfen, Hausarbeiten oder bei Spaziergängen. "Bei uns ist es genau umgekehrt. Statt mit dem Patienten einkaufen zu gehen, gehen wir für ihn einkaufen. Damit pflegen wir die Leute ins Heim", sagt Pichlbauer.

Eine Frage des Personals?

Die Warnungen klingen wie Hiobsbotschaften: Österreich drohe "eine gewaltige Personalnot in der Pflege", verkündeten Hilfsorganisationen vor kurzem. Bis 2030 würden 75.000 neue Pfleger benötigt. Das hat auch demografische Gründe: "Die Babyboomer-Generation fängt an, in Pension zu gehen", sagt Ulrike Famira-Mühlberger, Expertin am Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) Wien. Zudem seien immer mehr Frauen in Erwerbsarbeit, und Familien seien kleiner, wodurch das Potenzial der Angehörigenpflege zurückgehe.

"Wir müssen uns dringend um die Frage der Beschäftigung in der Pflege kümmern", sagt Monika Riedel, Gesundheitsexpertin am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien. Man dürfe den Menschen, die sich in diesen Beruf gewagt haben, nicht ihre Arbeit "vergällen", beispielsweise indem man sie mit Bürokratie "erschlage". Wenn der Pflegeberuf attraktiver gemacht würde, könne das nicht nur die Angehörigen entlasten, sondern auch eine Chance sein, mehr Menschen auf dem Land zu beschäftigen.

Ähnlich sieht es auch Pichlbauer: "In Österreich wird die Pflege noch nicht professionell gedacht, nach dem Motto ‚pflegen kann eh jeder‘." Die Ausbildung für Pfleger sei noch ziemlich unstrukturiert. "Die Pflege ist gerade für junge Leute nicht sehr sexy", sagt Simon Bluma, stellvertretender Geschäftsführer beim Kuratorium Wiener Pensionistenwohnhäuser. "Da müsste viel an dem Image des Berufs verbessert werden."

Angelika Tretthahn, Pflegerin im Haus Maria Jacobi, hat maturiert und ist danach in eine Krankenpflegeschule gegangen. "Die Pflege bietet viel. Man kann sich Zeit nehmen und lernt von den älteren Bewohnern", sagt sie. Aber es gebe auch einige Herausforderungen, etwa mit Beschwerden und Wünschen der pflegebedürftigen Menschen richtig umzugehen. "Ältere Menschen sind nach wie vor mündige Menschen. Wir müssen ihre Entscheidungen respektieren."

Eine Frage des Geldes?

Rund fünf Milliarden Euro kostete die Pflege den Staat 2016. Laut einem Bericht des Rechnungshofs werden die Pflegeausgaben bis 2060 von derzeit 1,8 auf 3,1 bis 3,4 Prozent des BIPs steigen. "Der Nachteil an der Steuerfinanzierung ist, dass es kein reserviertes Geld für die Pflege gibt. Wie viel Geld in die Pflege investiert wird, muss stets neu verhandelt werden", erklärt Famira-Mühlberger. Die Frage, ob wir uns die Pflege leisten können, sei nicht primär eine ökonomische, sondern mehr eine politische Entscheidung.

Im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern befinde sich Österreich laut Famira-Mühlberger bei den Pflegeausgaben in der unteren Hälfte. "Skandinavische Länder geben anteilig am BIP schon jetzt so viel aus wie in Österreich im Jahr 2050 prognostiziert." Von einer Finanzierung über eine Pflegeversicherung hält die Expertin jedoch wenig. "Das würde die Lohnnebenkosten erhöhen und die Wettbewerbsfähigkeit reduzieren."

Problematisch sei, dass falsche finanzielle Anreize für pflegebedürftige Menschen geschaffen würden, so die Expertin. Wer in stationärer Pflege mit hoher Pflegestufe sei, habe im Vergleich zur mobilen Pflege über die Pension und das Pflegegeld hinaus keine Selbstbehalte mehr. Durch den Wegfall des Pflegeregresses müsse die Allgemeinheit für die verbleibenden Kosten der Pflegeheimplätze aufkommen.

Zudem gebe es zu viele Zahlungsströme für die Pflegefinanzierung. Diese ist in Österreich zwischen dem Bund, den Ländern und Gemeinden verteilt. "Es wäre besser, die mobile und stationäre Pflege aus einem Topf zu zahlen", so Famira-Mühlberger.

Eine Frage des Wohnens?

Die meisten Österreicher wollen wohl auch in Zukunft in den eigenen vier Wänden alt werden. "Deshalb werden wir mehr Angebote brauchen, damit die Menschen zu Hause bleiben können, etwa mehr mobile Dienste und Hilfen im Alltag", sagt Monika Riedel. Aber auch in Pflegeheimen werden mehr Plätze benötigt. Rund 70.000 Pflegeheimplätze gibt es in Österreich.

Ideen für neue Pflegeheime gibt es einige. So haben einige Landwirte ihre Höfe in ein Heim für pflegebedürftige Menschen verwandelt, wo Menschen das Leben auf dem Hof mitbekommen und in engem Kontakt mit den Tieren leben sollen. Allerdings könnte der Trend nicht sehr langlebig sein: "Wir haben nach 18 Jahren beschlossen, das Pflegeheim zu schließen, die Bürokratie ist überbordend geworden", sagt der Landwirt Johann Steiner vom Adelwöhrerhof heute.

Andernorts soll an der Architektur und Wohnform von Pflegeheimen gefeilt werden. In Kopenhagen planen Architekten ein Pflegeheim, in dem Senioren, Jugendliche und Kinder zusammenleben und voneinander lernen sollen. "Ein Teil des sozialen Lebens zu sein ist bis zum Ende wichtig", sagt Flemming Rafn, der das Projekt, das in Dänemark unter dem Namen Future Sølund bekannt ist, betreut. Insgesamt sind 650 Senioren-, 150 Studentenwohnungen, ein Tageszentrum, Cafés, mehrere Parks, Sporthallen und öffentliche Plätze geplant, so Rafn. 2025 soll das Pflegeheim fertig sein.

In Kopenhagen, Dänemark, soll bis 2025 ein Pflegeheim entstehen, in dem alle Generationen miteinander zusammenleben sollen. Die Betreiber hoffen, dass es bis dahin schon einen Corona-Impfstoff gibt.
Foto: Third Nature & C.F. Møller

Allerdings ist die Betreuung in Pflegeheimen weit kostspieliger als daheim. Und auch mit der Corona-Pandemie haben die Heime zu kämpfen. Laut Sozialministerium war ein Drittel aller Covid-Verstorbenen in Alten- und Pflegeheimen. "Jeder Bereich hat seine eigene Küche und kann bei Bedarf isoliert werden", betont Rafn. "Wir hoffen aber, dass es bald eine Lösung für das Virus gibt."

Bei den Wiener Pensionistenwohnhäusern versucht man, die Pandemie als Chance zu sehen. "Die Krise führt dazu, dass wir einige Bereiche schneller digitalisieren", sagt Bluma. "Bewohner können mit Tablets Kontakt zu Angehörigen aufnehmen. Auch die Dokumentation könnte künftig stärker digital funktionieren."

Eine Frage der Technologie?

Das Bild der Pflegeroboter verspricht seit langem die große Revolution in der Pflege. Bis auf einige Prototypen schreitet deren Einsatz aber nur sehr langsam voran. Denn laut Experten können Roboter nicht die menschliche Zuwendung ersetzen. "Bis die Pflegeroboter da sind, fließt noch einiges Wasser die Donau hinunter", sagt Monika Riedel.

Viel mehr Potenzial verspricht sich die Expertin von einer besseren digitalen Kommunikation zwischen Pflegekräften und Ärzten. "Pfleger hängen oft sehr viel Zeit am Telefon, um einen Arzt zu erreichen." Stürzt beispielsweise ein Bewohner, ist nicht immer klar, ob er ins Krankenhaus muss. Indem Ärzte, Krankenhäuser und Pflegeheime besser zusammenspielen, können unnötige Krankenhaustransporte vermieden werden, so Riedel.

Als ein gelungenes Beispiel nennt die Expertin das Berliner Projekt, bei dem Pflegeheime stärker mit Heimärzten verbunden werden sollen. In einem Pflegeheim gibt eine digitale Krankenakte den Pflegern und der Ärztin laufend Auskunft, welche Beschwerden Heimbewohner haben. Bei Bedarf kann die Ärztin die Patienten schnell behandeln.

Die eine Lösung für die Pflege gibt es laut Riedel aber nicht. Stattdessen brauche es eine Kombination aus verschiedenen Wohnformen, Technologien und Organisationen. "Es sind viele kleine Dinge, die am Ende den Unterschied machen." (Jakob Pallinger, 06.11.2020)