Hier geht's zum STANDARD-Liveticker: Die spannendste US-Wahl seit langem

Die Corona-Pandemie hat den US-Präsidentschaftswahlkampf dominiert. Doch zahlreiche weitere Themen spielten zumindest kurzzeitig eine Rolle, andere hätte dringend eine Rolle spielen müssen. Eine Analyse der Programme zeigt: Der demokratische Kandidat Joe Biden würde nicht alles anders machen als der republikanische Amtsinhaber Donald Trump – aber doch einiges. Eine Auswahl.

  • Gesundheitspolitik

Eines von Donald Trumps wichtigsten Wahlversprechen 2016 war, das von den Republikanern so verhasste Projekt "Obamacare" abzuschaffen – also erste Schritte zu einer allgemeinen Krankenversicherung für alle US-Amerikaner. Kritiker sehen in der Pflichtversicherung, die Trumps Vorgänger Barack Obama eingeführt hat, ein zu starkes Eingreifen des Staates. Trumps Regierung setzte daher auf punktuelle Maßnahmen, wie zum Beispiel das Ziel, verschreibungspflichtige Medikamente günstiger zu machen.

Die Umsetzung blieb er den Wählern aber bisher schuldig. Der Zwang zum Abschluss einer Versicherung wurde zwar aufgeweicht, und mit Beginn nächster Woche wird das Höchstgericht prüfen, ob Obamacare verfassungskonform ist. Medikamentenpreise sind aber sogar weiter gestiegen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die US-Wahl findet heuer im Zeichen der Pandemie statt.
Foto: AP Photo/Robert F. Bukaty

Spätestens seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat die bis dahin eher stiefmütterlich behandelte Gesundheitspolitik das Weiße Haus eingeholt – im September dann sogar im sprichwörtlichen Sinne, als sich Trump selbst mit dem Virus angesteckt hat. Seine Erkrankung machte die Unterschiede im Gesundheitssystem eklatant sichtbar: Während Trump mit Helikopter und Leibarzt auf eine eigene Krankenhausstation geflogen wurde, konnten andere nur davon träumen, überhaupt in einem Spital aufgenommen zu werden. Besonders bitter ist, dass es erst Trumps Herunterspielen der Pandemie war, das zur unkontrollierten Verbreitung des Virus beigetragen hat. Besonders betroffen sind Menschen aus einkommensschwachen Schichten und Nichtweiße.

Im September verkündete Trump noch rasch vor den Wahlen seinen seit langem versprochenen "America First Healthcare Plan", allerdings ohne dabei wirklich konkrete Inhalte zu nennen. Auch in der grassierenden Opioidkrise und in Sachen Fettleibigkeit konnte seine Administration keine nennenswerten Verbesserungen erreichen. Durch Corona sind diese Gesundheitsprobleme in den Hintergrund gerückt.

  • Klimaschutz

Für die Bewohner der Westküste findet die Wahl inmitten der schlimmsten Waldbrandsaison der modernen US-Geschichte statt. Die USA sind somit nicht nur der zweitgrößte Umweltverschmutzer der Welt, viele Bürger sind inzwischen zu Leidtragenden des Klimawandels geworden. Einer Umfrage des renommierten Pew Research Center zufolge spielen Klimafragen in den USA eine immer größere Rolle: Eine Mehrheit der registrierten US-Wähler gab im Sommer an, dass Klimapolitik ihre Stimmabgabe beeinflussen würde. Für jeden Vierten sei das Thema sogar "sehr wichtig". Im Biden-Camp sagen das 68 Prozent, bei Trump-Unterstützern nur elf Prozent.

Für die Bewohner der Westküste findet die Wahl inmitten der schlimmsten Waldbrandsaison der modernen US-Geschichte statt.
Foto: EPA/Etienne Laurent

Das spiegelt sich in der Rhetorik der beiden Kontrahenten wieder: Beim letzten TV-Duell bezeichnete Biden die Erderhitzung als "existenzielle Bedrohung für die Menschheit". Die USA hätten eine "moralische Verpflichtung, damit umzugehen". Trump, der während seiner Amtszeit hunderte Umweltschutzregeln gekippt hat, versuchte sein langjähriges Klimawandeldementi zu relativieren, indem er das Pflanzen von Bäumen als Lösung hervorhob. Er positionierte sich vor allem als Verteidiger der Ölindustrie – denn daran hängen Millionen Arbeitsplätze.

Biden verspricht seinen Wählern hingegen neue Jobs – durch eine klimagerechte Modernisierung und eine schrittweise Transition von Erdöl hin zu erneuerbaren Energien. Er will dem Pariser Klimaabkommen wieder beitreten, einen Klimagipfel einberufen und die Treibhausgasemissionen bis 2050 auf Netto-Null reduzieren. Ein Fracking-Verbot, wie es auf linker Seite viele fordern und wie Trump versucht, seinem Kontrahenten zu unterstellen, lehnt er aber weiterhin ab.

  • Black Lives Matter

Systemischer Rassismus ist in den USA kein neues Phänomen. Seit Jahrzehnten machen Schwarze darauf aufmerksam, fordern eine Anerkennung des Problems und strukturelle, tiefgreifende Lösungen. In der Pandemie schien das Thema zunächst in den Hintergrund zu geraten – bis Ende Mai ein weißer Polizist den Afroamerikaner George Floyd tötete, indem er fast neun Minuten auf seinem Hals kniete. Danach kam es zu landesweiten Protesten, die zum Teil bis heute anhalten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd kam es zu landesweiten Protesten.
Foto: Reuters /Barria

Donald Trump positionierte sich in der Folge als Vertreter von "Law and Order", der hartes Vorgehen gegen die Demonstrierenden forderte und "Defund the Police", sooft es ihm möglich war, eine Absage erteilte. Auch Joe Biden versprach, Polizeibudgets aufzustocken, anstatt sie zu reduzieren. Auch auf Forderungen der Black-Lives-Matter-Bewegung, Geldmittel stattdessen in Gewaltprävention und Sozialmaßnahmen zu stecken, ging er wenig ein. Bereits zuvor war der Demokrat wegen seiner Involvierung in die Strafreform von 1994 kritisiert worden, die zu Massenverhaftungen geführt hatte – vor allem von Schwarzen. Auch seine Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris setzte als Justizministerin Kaliforniens auf Härte, beispielsweise kämpfte sie für ein Gesetz, nach dem die Eltern chronischer Schulschwänzer mit bis zu zwölf Monaten Gefängnis bestraft werden konnten.

Doch angesichts der Alternative eines Donald Trumps, der nicht imstande war, sich von weißen Überlegenheitsfanatikern zu distanzieren, eine rechtsextreme Gruppe sogar aufforderte, "sich bereitzuhalten", werden viele Progressive wohl dennoch ihr Kreuz bei Biden machen. Er erkannte das Problem des systemischen Rassismus zumindest an.

  • Frauenrechte

Die Diskriminierung von Frauen hätte eigentlich wegen der langen Liste an Vorwürfen sexueller Übergriffe beider Kandidaten im Wahlkampf Thema sein können. Oder während der Corona-Pandemie, als die Krise deutlich mehr Frauen als Männer ihren Job kostete. Erst im September schieden 1,1 Millionen Menschen komplett aus der Erwerbsbevölkerung aus – 865.000 davon Frauen.

Doch das Thema Frauenrechte kam erst im Endspurt des Wahlkampfes so richtig aufs Tapet: Nach dem Tod der liberalen Höchstrichterin Ruth Bader Ginsburg verbreitete sich die Angst vor gesellschaftlichen Rückschritten. Mit Amy Coney Barrett am Supreme Court, so hofft US-Präsident Donald Trump, so glauben seine Anhänger und so fürchten seine Gegner, wird die Aufhebung des Urteils im Fall Roe v. Wade besiegelt. Das Grundsatzurteil von 1973 stellte einen Schwangerschaftsabbruch unter das Recht auf Privatsphäre, Abtreibungsverbote wurden illegal.

Mit Amy Coney Barrett am Supreme Court, so hofft US-Präsident Donald Trump, soll die Aufhebung des Urteils im Fall Roe v. Wade besiegelt werden.
Foto: EPA/SHAWN THEW

Joe Biden hat sich im Wahlkampf immer wieder dafür ausgesprochen, dass Frauen diese Entscheidung selbst treffen können. Sollte das Grundsatzurteil tatsächlich vom Supreme Court gekippt werden, hat er allerdings nicht mehr viel mitzureden – dann entscheiden nämlich die jeweiligen Regierungen der Bundesstaaten, ob sie Verbote verhängen.

  • Migration

Im vergangenen Wahlkampf war es noch das dominierende Thema: die Einwanderungspolitik. Donald Trump bezeichnete Mexikaner pauschal als Vergewaltiger und kündigte den Bau einer Mauer an der südlichen Grenze an. Doch von den großen Tönen ist nicht viel geblieben. Zwar bezeichnete Trump im TV-Duell mit Biden Einwanderer noch immer als Vergewaltiger und Mörder, doch war es das erste Mal, dass das Thema Migration überhaupt in einer Konfrontation aufkam. Hauptsächlich ging es um die rund 500 Kinder, die an der Grenze von ihren Eltern getrennt und noch nicht wieder vereint worden sind. Auch für die Wählerinnen und Wähler hat Einwanderung diesmal keine Priorität. Laut CNBC sehen nur 15 Prozent des Wahlvolkes Immigration als Top-Thema. Laut einer Gallup-Umfrage von vor wenigen Wochen will allerdings zum ersten Mal seit 1965 eine Mehrheit der US-Bürger mehr statt weniger Einwanderung.

Prinzipiell stehen sich die beiden Anwärter auf das höchste Amt bei dem Thema konträr gegenüber. Denn Biden hat bereits ein 100-tägiges Moratorium für Abschiebungen und einen Weg zur Staatsbürgerschaft für rund elf Millionen undokumentierte Einwanderer zu schaffen. Wird Trump wiedergewählt, wird hingegen seine toughe Antiimmigrationspolitik weitergehen. So wurden unter ihm Einreiseverbote gegen mehrheitlich muslimische Länder verhängt, weniger permanente Visa ausgegeben und weniger Flüchtlinge aufgenommen. Die Netto-Zuwanderung halbierte sich in den Jahren von 2016 und liegt bei 600.000 Menschen jährlich – so wenige wie seit den 1980ern nicht mehr.

  • Wirtschaft und Steuern

Das Thema Wirtschaft ist das einzige, bei dem Trump stabil gute Umfragewerte hat. Bis zur Corona-Krise befand sich die US-Wirtschaft im Aufschwung. Die Arbeitslosenrate war niedrig. Konjunktureller Rückenwind wehte aber schon vor Beginn seiner Amtszeit. Trumps Regierung setzte dann allerdings einige Stimuli, wie eine große Steuerreform. Der US-Präsident selbst zahlt wohl wenig Steuern: Die New York Times berichte Ende September, er habe in elf der 18 Jahre zwischen 2000 und 2017 keine Einkommenssteuer auf Bundesebene bezahlt – und 2016 und 2017 jeweils nur 750 Dollar. Eine Steilvorlage für Joe Biden, um Trump als Pleitier und Trickser hinzustellen, der als Präsident selbst mitgeholfen hat, die Steuerlast von Großverdienern zu nehmen.

Sollte er Präsident werden, will Biden diese Reform anpassen. Das beträfe vor allem Spitzenverdiener und große Unternehmen. Trump warf Biden im Wahlkampf vor, das Geld von US-Bürgern den Migranten und Minderheiten "in die Taschen zu stopfen".

Will Biden die US-Wirtschaft nach der Covid-19-Pandemie wieder ankurbeln, muss er viel Geld in die Hand nehmen. Und das mit einem Staatshaushalt, der höher verschuldet ist als 2016. 400 Mrd. Dollar sollen unter Biden in staatliche Aufträge für Infrastrukturprojekte und Beschaffung fließen. Von diesem Programm verspricht er sich fünf Millionen neue Jobs. Offen ausgetragene Handelskriege, wie sie Dealmaker Donald Trump zur Prämisse erhob, sind zwar nicht Bidens Stil, aber die Haltung der US-Demokraten gegenüber China unterschiedet sich im Kern nicht von der der Republikaner. Es ist daher kaum damit zu rechnen, dass Biden die von Trump eingeführten Strafzölle rückgängig macht.

  • Außenpolitik

Die Enttäuschung ist schon programmiert. Joe Biden, so hoffen viele in Europa und der Welt, würde als Präsident zu jener Politik zurückkehren, die man noch von früher kennt: vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der EU, klare Worte zu Autokraten. Und im Allgemeinen wohl eine Außenpolitik, die eher auf Werte als auf persönliche Beziehungen zu Diktatoren baut. Zumindest Letzteres würde Biden wohl erfüllen – den Rest aber eher nicht. Auch er wäre in seinem Zugang zur EU von Interessen geleitet. Und da ist anzuerkennen: Dass Europa, auch militärisch, stärker für sich selbst sorgen sollte, ist Konsens in den USA. Das sagen auch jene Thinktanks, die die Demokraten beraten. Freundlichere Worte würden darüber nicht hinwegtäuschen können.

Härtere Worte gäbe es dagegen für Russland. Und es würden mehr Nachforschungen zur Einflussnahme auf den Wahlkampf angestrengt. Andererseits war Moskau zuletzt auch mit Trump wenig zufrieden. Mit Biden ließe sich etwa viel eher eine Verlängerung des New-Start-Vertrages verhandeln, der die Zahl der jeweiligen Atomsprengköpfe und Trägersysteme begrenzt und im Februar ausläuft.

Bleibt China. Für Peking wäre ein Präsident Biden eine Umstellung, aber keine Entspannung. Der Demokrat würde stärker als Trump die Angriffe auf Hongkong und Taiwan und die Behandlung der Uiguren verurteilen. Wie viel er konkret tun könnte oder wollte, ist aber unklar. Der Handelskrieg würde nicht mehr auf Twitter geführt werden, so schnell beenden würden Biden ihn aber auch nicht. Denn Vereinbarungen abzuschließen, die aus Sicht der Republikaner für Peking zu vorteilhaft sind, das könnte sich Biden nicht leisten.

Offen ist auch, ob die Volksrepublik Freude mit Bidens Nordkorea-Politik hätte. Zwar würde der Demokrat sicher nicht sofort wieder auf Spannungen mit Kim Jong-un setzen. Freundliche Treffen wären aber auch nicht zu erwarten. Und etwas mehr als Trump würde er wohl auch darauf pochen, dass Pjöngjang den derzeit munter betriebenen Bau neuer Raketen und Atombomben zurückfährt. (Bianca Blei, Manuel Escher, Manuela Honsig-Erlenburg, Noura Maan, Flora Mory, Anna Sawerthal, 3.11.2020)