"Oe24.at" in einer – wohl serverbedingten – Persönlichkeitsschutz-Variante am Montagabend nach den Anschlägen in Wien.

Foto: Screenshot Oe24.at am 2.11.2020 abends

1.450 Beschwerden sind bis Mittwochvormittag gegen die Berichterstattung von "Oe24" und "krone.at" über die Anschläge in Wien beim Österreichischen Presserat eingegangen, schon Montag spätabends zählte der Presserat rund 300. So viele Beschwerden gingen noch nie über einen Anlassfall beim Selbstkontrollorgan der österreichischen Medienbranche ein, hieß auf STANDARD-Anfrage. Die Seiten beziehungsweise Sender zeigten Videos von Schüssen von Angreifern auf Menschen im Zuge der Anschläge.

  • Update 4.11. 10.20 Uhr: Aktueller Stand der Beschwerden über die Videoberichterstattung von "Oe24" und "krone.at" laut Presserat: 1.450.

  • Update 3.11. 20.45: Fellner entschuldigt sich Oe24 TV entschuldigte sich am Dienstagabend in einer Spezialsendung für die Veröffentlichung des Videos. Man verstehe, dass es in Österreich "eine andere Betroffenheit als in anderen Teilen der Welt" gebe, erklärte Wolfgang Fellner auch gegenüber dem STANDARD. Man entschuldige sich ausdrücklich für die Veröffentlichung des Videos und habe es nicht mehr gezeigt, als man erkannt habe, dass es "einen Teil unserer Zuseher verletzt". Fellner erklärte im Gespräch mit dem STANDARD am Dienstagabend, es handle sich nicht um ein Handyvideo, sondern um ein Video aus der Überwachungskamera der Israelitischen Kultusgemeinde in der Wiener Seitenstettengasse. Das Video sei vom israelischen Fernsehen (DER STANDARD berichtete) gesendet und verbreitet worden. Fellner sagt, nach seinem Wissen hätten es weltweit 70 Fernsehsender ausgestrahlt. Zudem erklärt Fellner, das Video sei nicht auf Oe24.at publiziert worden – dort habe man schon wegen Serverproblemen am Montagabend keine Videos hochladen können. Auf der Seite könne es alleine im Livestream von Oe24TV zu sehen gewesen sein.

  • Update 3.11. 16.30 – Journalistengewerkschaft fordert Konsequenzen für Medien, die ethische Grenzen überschreiten. "Voyeurismus im Angesicht eines brutalen, verabscheuungswürdigen Verbrechens hat im seriösen Journalismus keinen Platz", heißt es in einer Aussendung. Die Journalistengewerkschaft in der GPA-djp fordere "daher, derartigen medialen Entgleisungen die Unterstützung mit Steuergeldern zu entziehen".

  • Update Beschwerden, Stand 3.11., 14.30 Uhr laut Presserat: 1.250

  • Update 3.11. 13.15 – Kritik von Eva Dichand In den Sturm der Entrüstung über "oe24" stimmte laut auch Eva Dichand, Herausgeberin von "Heute" und damit Konkurrentin am Gratiszeitungsmarkt – sowie Ehefrau von "Krone"-Herausgeber Christoph Dichand –, ein: "Und BITTE... hauen Sie uns nie mehr wieder mit denen in einen Topf. Wir sind anders", schrieb sie auf Twitter und illustrierte diesen Appell mit den Titelseiten von "Heute" und "oe24": Eva Dichands Zeitung hatte als Aufmacherbild eine Rose gewählt und im Blattinneren erläutert, "warum 'Heute' auf Bilder von Täter und Opfern verzichtet".
  • Der Verein Medienjournalismus Österreich (MÖ) verurteilte am Dienstag ebenfalls "die von einigen Medien veröffentlichten Fotos und Videos": "Diese Form von Journalismus ist unverantwortlich und degoutant und gibt den Tätern auch noch eine Bühne. Solche Veröffentlichungen widersprechen nicht nur dem Ehrenkodex der Presse, sondern könnten auch juristische Folgen nach sich ziehen, weil die Verbreitung von Aufnahmen, auf denen Opfer eines solchen Anschlags zu erkennen sind, medienrechtlich unzulässig ist", hieß es in einer Aussendung. Der Verein appellierte "an alle Kollegen und Medien, nicht den Voyeurismus mancher zu befriedigen, sondern verantwortungsbewusst und mit Bedacht zu handeln".
  • Update 3.11. 11.45 – "Krone"-Chefredakteur Klaus Herrmann: Videos entfernt Der Chefredakteur der "Kronen Zeitung", Klaus Herrmann, erklärte Dienstagvormittag auf STANDARD-Anfrage, man habe die Videos am Morgen von der Seite genommen. Herrmann wörtlich: "Wir haben uns nach internen Diskussionen in der Nacht entschieden, Tatvideos nach bestmöglicher technischer Entschärfung zu veröffentlichen, um die Bedrohungslage zu unterstreichen. Die Videos wurden heute morgen nach der – vermuteten – Entspannung der Lage wieder offline genommen."

  • Update 3.11. 10.20 – Bereits 700 Beschwerden sind laut einem Update beim Österreichischen Presserat wegen den Schussvideos eingegangen.

  • Update 3.11. 10.00 – Billa, Spar, Interspar und Hervis stoppen nach eigenen Angaben wegen Anschlagsberichterstattung Werbung auf Oe24.at, Billa nach eigenen Angaben auch bei krone.at.

  • Update 3.11. 8.00 – "Österreich"/"Oe24"-Herausgeber Wolfgang Fellner erklärt gegenüber dem STANDARD, seine Seite zeige die Videos nach Kritik etwa auf Twitter am Montagabend nicht mehr; er sagt, seit etwa 23 Uhr. Fellner verweist darauf, dass die Videos von internationalen Medien und auf Social Media "dutzend-, ja hundertfach" gezeigt worden seien, ebenso von "Bild.de" und in Österreich etwa von "krone.at". Wie sieht er ethische Einwände gegen die Veröffentlichung von Anschlagsszenen? Fellner: "Das ist ein Terroranschlag. Ich glaube schon, dass es zum Verständnis des Terroranschlags dazugehört, wie der Todesschütze agiert hat." Sein Medium habe "in keinem einzigen Fall eine Identität verletzt", die Videos hätten "primär den Schützen" gezeigt, "wie der um sich feuert". In einem von "Oe24" gezeigten Video habe bereits ein israelischer Sender ein sonst womöglich erkennbares Opfer unkenntlich gemacht, sonst hätte dies "Oe24" vor der Veröffentlichung getan. Im Gegensatz zu anderen Medien habe seines keine Werbung in der Berichterstattung zu den Anschlägen geschaltet, erklärte Fellner.

"Eindringlicher" Appell für Persönlichkeitsschutz

"Anlässlich des schrecklichen Attacken in Wien weisen wir eindringlich auf den Persönlichkeitsschutz der Opfer hin", twitterte der Österreichische Presserat am Montagabend. Hinweise auf Videos von tödlichen Schüssen, etwa auf "Oe24.at", kommentierte das Selbstkontrollorgan der Branche mit: "Beschwerden können Sie an info@presserat.at richten."

"Österreich" und inzwischen auch die Gratismarke "Oe24" der Fellner-Mediengruppe haben den Ehrenkodex der Branche anerkannt, der Ethikregeln für die Berichterstattung festlegt. Die Entscheidungen des Presserats über Verletzungen dieses Ehrenkodex veröffentlichte "Österreich" bisher nicht wahrnehmbar – es sei denn, diese Verletzungen werden bei anderen Medien festgestellt.

Auch "krone.at" zeigte Augenzeugenvideos von den Vorfällen, etwa auch von den Schüssen eines Attentäters auf eine Person, mit einer Überblendung, die diese unkenntlich machte.

"Bedachter, bewusster und vielleicht auch noch anständiger"

"Wir werden sicher noch behutsamer und vorsichtiger vorgehen und noch mehr abwägen", sagte "Krone"-Chefredakteur Klaus Herrmann im STANDARD-Interview im Mai 2019 nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos über Heinz-Christian Straches "Krone"-Übernahmefantasien. Herrmann damals: "Jetzt muss man sicher Kurskorrekturen vornehmen, bedachter und bewusster und vielleicht auch noch anständiger sein."

Die "Kronen Zeitung" erkennt den Presserat und den Ehrenkodex bisher nicht an. Der Presserat beschäftigt sich dennoch mit Beschwerden oder Informationen über deren Berichterstattung.

Der Presserat ist ein freiwilliges Selbstkontrollorgan der Branche. Wer den Ehrenkodex anerkennt, verpflichtet sich, Entscheidungen des Presserats über die eigene Berichterstattung zu veröffentlichen.

  • Update: "Falter" Für Diskussionen auf Twitter sorgten auch Posts von "Falter"-Chefredakteur Florian Klenk auf Twitter und etwa in der Sonder-"ZiB" am Montagabend – etwa über eine angebliche Geiselnahme in Wien-Mariahilf – und ein ausführliches Psychogramm des mutmaßlichen Täters auf "Falter.at". Denn, so der Stand der medialen und politischen Debatte zu solchen Anschlägen: Namensnennung, auch abgekürzt, und Abbildung des Täters können zur Heroisierung des Täters in Sympathisantenkreisen beitragen; der Attentäter von Christchurch etwa wurde von Politik und Medien in Neuseeland möglichst nicht namentlich genannt oder gezeigt.

(fid, red, APA, 3.11.2020)