Jahrelang galt Österreich eher als Durchreise- oder Rückzugsort potenzieller Terroristen. Das kann sich geändert haben.

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Dass so etwas jederzeit "auch bei uns" passieren könnte, war jedem klar, der sich mit der Materie befasst: Der "Islamische Staat" (IS) sei nur territorial, nicht als Terrororganisation am Ende, kann man in jeder einschlägigen Analyse lesen. Nach der Zerschlagung ihrer pseudostaatlichen Schreckensherrschaft in Syrien und im Irak befindet sich die Gruppe unter einer neuen Führung in der Phase einer Neuaufstellung und wartet nur auf eine Chance der Wiederauferstehung. In der letzten Zeit sind die Lebenszeichen durch ihre Propagandaorgane wieder häufiger geworden – und das haben auch organisierte oder unorganisierte mögliche Mittäter überall auf der Welt, vor allem in Europa, mitbekommen. Auch in Wien.

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Der IS war als Pseudostaat hierarchisch organisiert, aber genau wie bei Al-Kaida funktioniert er nicht nur durch direkt entsandte Täter, sondern auch "horizontal": Die Verbrecher, die Mörder setzen sich selbstermächtigt in Aktion, erst danach wird in vielen Fällen ihre Tat durch den IS anerkannt.

Das Scheitern vergessen machen

Die neuerliche Auseinandersetzung über die Karikaturen von "Charlie Hebdo" – die als Allererstes einen Lehrer das Leben gekostet hat, der mit seinen Schülern und Schülerinnen mit großem Respekt das komplexe Kapitel Rede-, Meinungs- und Kunstfreiheit diskutieren wollte – ist eine zu gute Gelegenheit für den IS, um sie einfach so verstreichen zu lassen. Mit keinem anderen Thema als der vermeintlichen Beleidigung des Propheten Mohammed kann die Organisation besser vergessen machen, dass sie gescheitert ist, dass sie tausende ihrer oft sehr jungen Gefolgsleute in den Tod und ihre Familien in Gefangenenlager geschickt hat. Die dort festsitzen und sich weiter radikalisieren.

Über den oder die mutmaßlichen Wiener Täter weiß man noch wenig, außer dass man ihn oder sie dem IS-Kreis zurechnen muss. Es wird Geheimdienstversagen in den Raum gestellt werden, vor allem, wenn sich erweist, dass einer oder mehrere von ihnen bereits behördenbekannt war oder waren.

Das muss aber nicht sein. Der Hass und die Wut können lange im Verborgenen wachsen. Aber wenn es mehrere waren, haben sie sich höchstwahrscheinlich organisiert, es war diesmal wohl nicht der "einsame Wolf" oder der verwirrte Psychopath. Allerdings liegt der Verdacht nahe, dass der bevorstehende Lockdown den oder die Täter bewogen hat, den Terrorangriff vorzudatieren, um mehr Menschen töten zu können. Es ist nicht abwegig, zu spekulieren, dass nicht damit gerechnet wurde, in der Seitenstettengasse vor einer bereits geschlossenen Synagoge zu stehen.

Warum Wien?

Das ist jedoch schon die einzige erleichternde Nachricht des gestrigen Tages. Warum gerade Wien? Jahrelang galt Österreich eher als Durchreise- oder Rückzugsort potenzieller Terroristen. Das kann sich geändert haben. Die österreichischen Regierungen waren zwar klar in ihren Haltungen zum islamistischen Terror – wie auch nicht! –, aber die jetzige Kanzlerpartei hat neue Wege eingeschlagen, hat sich härter positioniert, mit der Schaffung einer Stelle, die den "politischen Islam" beobachten soll, aber auch mit ihrer fast schon bedingungslosen Positionierung an der Seite der israelischen Regierung.

Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. Die Türkisen stehen – gelinde gesagt – generell Muslimen und Musliminnen in diesem Land nicht freundlich gegenüber, aber keiner von diesen wird deshalb zum Gewehr oder zum Messer greifen. Der jihadistische IS ist ein ganz anderes Biotop, auf das der Mainstream-Islam, auch wenn er konservativ ist, wenig Einfluss hat. Und man sollte sich darauf besinnen, dass der jetzt gepredigte Satz – "wir werden diese Krise nur gemeinsam bewältigen" – auch die muslimischen Einwohner und Einwohnerinnen Österreichs miteinbeziehen muss. (Gudrun Harrer, 3.11.2020)