Die ferne Vergangenheit sah der Gegenwart ähnlicher, als man glauben würde: Als die Dinosaurier erst entstanden, waren Tiere wie Kataigidodon schon längst da.
Illustration: Virginia Tech

Vor 220 Millionen Jahren waren die Dinosaurier noch eine sehr junge Tiergruppe, und weit von den Körpergrößen und der ökologischen Dominanz späterer Zeiten entfernt. Unsere Verwandtschaft hingegen, die unmittelbaren Vorfahren der Säugetiere, gehörte damals schon zu den Alteingesessenen. Einen neuentdeckten Vertreter dieser ebenso urtümlichen wie seltsam vertraut wirkenden Tierwelt haben US-Forscher nun im Fachjournal "Biology Letters" vorgestellt.

Fast ein vertrauter Anblick

Könnten wir das Tier mit der Bezeichnung Kataigidodon venetus heute durchs Gebüsch huschen sehen, käme es uns bei oberflächlicher Betrachtung nicht sonderlich verdächtig vor. Wir würden es wohl für eine Ratte oder einen ähnlichen kleinen Säuger halten, sagt Ben Kligman vom Virginia Tech College of Science, der das Fossil des Tiers in Arizona entdeckt hat. Gefunden hat man nur Teile des Kiefers und einige Zähne, doch daraus lässt sich auf eine Körperlänge von etwa neun Zentimetern schließen.

Stutzig würde es uns natürlich machen, wenn diese vermeintliche Ratte nackt wäre, aber das ist unwahrscheinlich. Zwar lässt sich aus den Überresten nicht ablesen, ob Kataigidodon ein Fell hatte. Man weiß es aber von etwas später lebenden Verwandten – der Schluss liegt daher nahe, dass dies auch für die Neuentdeckung gilt. Der Fundort lag vor 220 Millionen Jahren in Äquatornähe, mitten im Superkontinent Pangaea. Dort hätten Bedingungen geherrscht, unter denen nur Zähne und wirklich robuste Knochen erhalten geblieben wären, aber keine Spuren eines Haarkleids.

Zwei Dynastien ringen um die Vorherrschaft

Besagte Verwandtschaft, mit der das Team um Kligman das Fossil vergleichen konnte, waren die Cynodonten, deren letzte noch lebende Vertreter die heutigen Säugetiere sind. Früher sprach man von "säugetierähnlichen Reptilien", weil sie vom Körperbau her eine Mischform aus beiden Tiergruppen zu sein schienen, eine vermeintliche evolutionäre Übergangsform. Doch dieses Konzept wurde inzwischen verworfen. Säugetiere haben sich nicht aus Reptilien entwickelt, stattdessen spalteten sich die frühen, noch amphibisch lebenden Landwirbeltiere rasch in verschiedene Zweige auf. Einer davon führte zu den heutigen Vögeln und Reptilien, ein anderer zu den Säugetieren.

Von Anfang an standen diese beiden Zweige des Lebens in Konkurrenz zueinander, und zunächst war "unsere" Hälfte der Fauna dabei im Vorteil. Die Cynodonten entstanden vor etwa 270 Millionen Jahren, gut 30 Millionen Jahre vor den Dinosauriern. In die Zeit dieses Vorsprungs fiel nicht zuletzt eine globale Katastrophe, die das größte Massenaussterben auslöste, das es jemals gegeben hat. Doch die Cynodonten und andere Gruppen aus der erweiterten Säugetierverwandtschaft überstanden es und bevölkerten die Erde weiterhin in hoher Artenvielfalt.

Ein Umbruch zeichnet sich ab

Doch nachdem sich der Planet von den Folgen der globalen Verheerung vollständig erholt hatte, wurde es für unsere Urahnen plötzlich brenzlig. In den Jahrmillionen danach blühte nämlich die Konkurrenz auf und brachte ebenso innovative wie durchsetzungsfähige neue Formen hervor: Dinosaurier, Krokodile, Flugsaurier und verschiedene Gruppen von Meeresreptilien. Die Säugetierverwandtschaft geriet parallel dazu zusehends ins Hintertreffen.

Kataigidodon venetus (wörtlich: "blauer Gewitterzahn") illustriert dies recht gut: Da, wo heute die bläulichen Felsen der Thunderstorm Ridge liegen, nach denen das Tier benannt wurde, erstreckte sich vor 220 Millionen Jahren ein üppiger Dschungel. In diesem Lebensraum konnte Kataigidodon nur einen mittleren Platz in der Nahrungskette belegen. Er fraß Insekten, wie sich aus seinen spitzen Zähnen schließen lässt. Zugleich musste er sich jedoch vor den Vertretern der neuen Konkurrenz hüten, etwa vor Coelophysis, einem der ersten Dinosaurier. Mit seinem schlanken Körperbau wies dieser flink auf zwei Beinen laufende Fleischfresser den Weg in die Zukunft. Und auch frühe Krokodile mischten bereits mit. Laut Kligman waren sie kaum größer als heutige Kojoten – doch für das kleine Beinahe-Säugetier stellten sie eine tödliche Gefahr dar.

Der Fund aus Arizona steht damit stellvertretend für eine Zeit des Umbruchs. Damals, im Zeitalter der Trias, konkurrierten die verschiedenen Zweige des Lebens noch miteinander. Doch es zeichnete sich bereits der Trend ab, der danach das ganze Erdmittelalter prägen würde: Dinosaurier und zu einem geringeren Maß Krokodile dominierten die Lebensräume an Land, während die Säugetierverwandtschaft auf eine Nebenrolle beschränkt blieb.

Vielfalt im Verborgenen

Was aber nicht heißt, dass sie nicht ihren eigenen Reichtum gehabt hätte. Zahlreiche Funde in den vergangenen Jahrzehnten ließen erahnen, dass die Säugetiere und ihre unmittelbaren Vorfahren im Schatten der Dinos wesentlich vielfältiger waren, als man je gedacht hätte. Es war jedoch eine Vielfalt im Kleinen, und kleine Tiere hinterlassen viel seltener Fossilien als Riesen. Kataigidodon ist erst der zweite Cynodont aus der späten Trias, den man je in Nordamerika gefunden hat. Kligmans Doktormutter Michelle Stocker betont daher die Bedeutung des Fundes: Die buchstäblich übersehenen Kleintiere seien der Schlüssel zum Verständnis der Vergangenheit – und wie sich aus dieser die Gegenwart entwickeln konnte.

Denn in der langen Zeit, in der die großen Dinosaurier scheinbar konkurrenzlos waren, entwickelten sich Cynodonten zu eigentlichen Säugetieren weiter. Die standen dann bereit, als der Asteroideneinschlag vor 66 Millionen Jahren das Pendel zurückschwingen ließ. Die riesenhafte Konkurrenz wurde ausgelöscht und der Zweig des Lebens, zu dem auch wir gehören, konnte nach der wohl längsten Wartefrist aller Zeiten endlich seine zweite Chance nutzen. (jdo, 9.11.2020)