DER STANDARD erreichte den Terrorismusexperten Peter Neumann nach den Terroranschlägen vom Montagabend am Dienstagmorgen in London gegen neun Uhr. Auch das Interview mit dem Jihadismusexperten Edwin Bakker, das Sie weiter unten lesen, wurde mit dem Wissensstand dieses Zeitpunkts geführt.

STANDARD: Herr Neumann, der Innenminister hat in der Nacht bestätigt, dass einem der mutmaßlichen Attentäter ein islamistisches Motiv zugeschrieben werden muss. Sie sagten schon 2015 nach den Anschlägen auf "Charlie Hebdo" in Paris, dass Europa vor einer neuen Terrorwelle stehe, die noch Generationen beschäftigen werde. War es traurigerweise nur eine Frage der Zeit, bis der Terror auch die internationale Metropole Wien erreicht?

Neumann: Na ja, Wien war immer schon ein Ziel. Lange Zeit nicht, aber vor 40 Jahren schon. Dann war ja erst mal lange Zeit Ruhe, aber als ich mehr Zeit in Wien verbracht habe, 2017, als ich für die OSZE Sonderbeauftragter war und da mit den österreichischen Behörden zu tun hatte, habe ich schon immer gemerkt, dass ein Bewusstsein dafür besteht, weil es in Wien selbst und in Österreich eine jihadistische Szene gibt und weil man natürlich wusste, dass Wien als internationale Stadt, als Sitz der Vereinten Nationen und der OSZE und als kulturelle Metropole aus vielen Gründen immer schon ein Ziel für Jihadisten war. Also deswegen: Ja, natürlich ist man immer überrascht, es muss nicht passieren, aber es war schon im Prinzip immer allen klar, dass auch Wien ein Ziel sein könnte.

STANDARD: Der Terrorakt traf sowohl das jüdische Herz als auch eines der Vergnügungsviertel Wiens. Ist das ein für Sie typischer Ort? Ist das ein für Sie typischer Stil von IS-Sympathisanten?

Neumann: Na ja, der IS hat ja auch von Anfang an allen seinen Anhängern klargemacht, dass sie im Prinzip, wenn sie im Westen sind, machen können, was sie wollen. Sie können sich jedes beliebige Ziel aussuchen. Wir wissen natürlich auch, dass es bestimmte Ziele gibt, die sehr beliebt sind. Es ist klar, dass jüdische Einrichtungen immer wieder Ziel von Jihadisten sind, aber natürlich eben auch sogenannte "softe" Ziele, also dort, wo sich Menschen treffen, vergnügen, in Restaurants, Einkaufszentren und so weiter und so fort. Auch das haben wir natürlich leider schon vielerorts in Europa gesehen.

Es gibt kein definitives Muster, und ich denke, der IS ist leider schlau genug zu verstehen, worum es bei Terror geht. Wenn Terror nämlich kalkulierbar wird, dann hat er keine terrorisierende Wirkung mehr. Wenn ich weiß, dass die Terroristen nur Synagogen angreifen, dann mache ich mir als jemand, der keine Synagogen besucht, keine Sorgen mehr. Und das Gefühl wollen die Terroristen ja gerade nicht, sie wollen Angst und Schrecken und Panik verbreiten, und deswegen ist eine gewisse Unkalkulierbarkeit dieser Anschläge quasi Teil des Modus operandi.

STANDARD: Terrorismus hat immer auch etwas mit Spektakel zu tun. Es braucht den Betrachter, um zu wirken. Haben es die sozialen Medien den Attentätern leichter gemacht, ihre Propaganda zu säen, zu verbreiten?

Neumann: In der Vergangenheit ist das absolut so gewesen – also Mitte des Jahrzehnts, als der IS groß geworden ist, hatte er dadurch seine Marke geschaffen, dass er in den sozialen Medien präsent war, und das wurde auch zu lange von den großen Plattformen ignoriert. Plattformen wie Facebook und Twitter, wo 2014/15 jihadistische Kämpfer sich ohne Probleme darstellen konnten.

Das hat sich mittlerweile ein bisschen geändert. Die Jihadisten sind auf andere Foren ausgewichen, das sind jetzt häufig verschlüsselte Foren. Für den "Islamischen Staat" ist besonders die Plattform Telegram sehr attraktiv und sehr wichtig. Die Verschlüsselung birgt natürlich auch Probleme für die Sicherheitsbehörden. Sie können nicht mehr so leicht beobachten, was da passiert. Das Positive an diesen etwas weniger wichtigen Plattformen ist natürlich, dass der IS weniger Leute hat, die er dadurch erreicht. Also er kann diese Marke, diese brutale, weltbeherrschende Kalifatsmarke, heute nicht mehr so einfach schaffen, wie das 2013 bis 2015 möglich war.

STANDARD: Wie muss eine Stadt, wie soll ein Land auf einen solchen Akt des Terrors reagieren?

Neumann: Ich denke, es ist wichtig, dass man geschlossen reagiert, dass man genau versteht, was schiefgelaufen ist. Es geht ja nicht darum, jetzt zu sagen, da haben Leute große Fehler gemacht. Die Tatsache, dass Wien so lange nicht zum Ziel terroristischer Anschläge wurde, könnte man ja auch als Hinweis darauf interpretieren, dass auch vieles richtig gemacht wurde. Das, was schiefgegangen ist, bedarf aber trotzdem der Analyse, man muss sich genau anschauen: Ist da ein Fehler unterlaufen, wie kann man diese Lücke schließen?

Es ist auch ganz wichtig, dass die Gesellschaft jetzt versteht, worum es Terroristen geht. Es geht Terroristen letztlich darum, Gesellschaften zu spalten, sie in Angst und Schrecken zu versetzen, Leute gegeneinander aufzuhetzen. Und ironischerweise versuchen islamistische Terroristen, die Leute gegen Muslime aufzuhetzen, um diese Muslime noch weiter zu radikalisieren und in ihre Arme zu treiben. Das ist ein bisschen kompliziert, aber ich hoffe, das wird gut erklärt, denn das impliziert und bedeutet, dass es eben nicht der richtige Weg ist, jetzt auf alle Muslime draufzuhauen und zu sagen: Wir müssen die Muslime dafür bestrafen. Es geht darum, die Gesellschaft als Einheit zu behalten und genau diese Spaltung und dieses Aufeinanderhetzen zu verhindern, denn das spielt letztlich den Terroristen in die Hände.

STANDARD: Letzte Frage: Was kann jeder Einzelne tun?

Neumann: Als Einzelner kann man im Prinzip zwei Dinge tun. Erst mal jetzt, wo diese akute Gefahrensituation besteht, die Aufforderungen der Polizei und der Sicherheitsbehörden zu befolgen. Wenn die also sagen: "Bleibt zu Hause", dann bleibt bitte zu Hause. Aber dann ist natürlich letztlich, wenn die Gefahrensituation vorbei ist, ein Zeichen der Geschlossenheit zu setzen. Das ist jetzt mit der Pandemie und während des Lockdowns nicht so einfach. Aber wenn es diesen Lockdown nicht gäbe, dann würde ich vorschlagen, einfach ganz normal dem Leben nachzugehen. Die Gefahr, durch einen terroristischen Anschlag zu sterben, ist nach wie vor sehr, sehr, sehr gering. Und das beste Zeichen, das man im Prinzip setzen kann, ist, sein Leben so zu leben, als gäbe es keine terroristische Gefahr.

Auch der angesehene Terrorismusexperte Edwin Bakker von der Universität Leiden beantwortete dem STANDARD erste Fragen.

STANDARD: Auch an Sie die Frage, Herr Bakker: Wie sollten eine Stadt und ein Land in so einer Situation reagieren?

Bakker: Österreich hat im letzten Jahrzehnt viele Erfahrungen im Kampf gegen den Terrorismus gesammelt: Es hat erfolgreich zahlreiche Anschläge verhindert, etwa mehre Fälle mit tschetschenischer Beteiligung, und hat es auch geschafft, viele Personen an der Ausreise nach Syrien und Irak zu hindern. Die Antiterrorexperten sind in engem Kontakt mit ihren europäischen Kollegen. Das ist auch ein Grund, warum Österreich bislang nicht von solchen Attacken betroffen war. Österreichs weitgehend neutrale Haltung machte es auch nicht zu einem solch expliziten Angriffsziel wie etwa Frankreich. Die Reaktion auf eine solche Attacke ist aber natürlich für alle Staaten schwer, speziell, wenn es wenig Erfahrungswerte gibt im Land. Österreich hat aber wie gesagt viel Erfahrung in der Vereitelung von Anschlägen.

Polizisten am 3. November in Wien.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

STANDARD: Wie brechen wir die Propagandastrategie? Wie schaffen wir es, dass das kein Erfolg für die Terroristen wird?

Bakker: In Frankreich haben sich die großen Zeitungen dazu entschieden, nicht über die einzelnen Täter zu schreiben, um ihnen nicht das zu geben, was sie wollen: Aufmerksamkeit und Ruhm. In Neuseeland bat Premierministerin Jacinda Ardern die Behörden und die Presse, nicht einmal den Namen der Terroristen zu nennen, und soziale Medien bemühen sich zusehends, Inhalte, die den Terroristen dienlich sein könnten, runterzunehmen. Es ist unmöglich, sie zum Schweigen zu bringen, aber man kann deren Einfluss minimieren. Die öffentliche Verurteilung der Anschläge durch Politik, aber auch durch muslimische Personen ist natürlich ebenso eine klassische Bewältigungsmethode.

STANDARD: Müssen wir lernen, mit dieser Gefahr zu leben?

Bakker: Das geht nicht weg. Die jihadistische Szene in Österreich und vielen anderen europäischen Staaten ist größer als noch vor zehn Jahren, trotz des militärischen Untergangs des IS und trotz vieler verstorbener Jihadisten. Die Anziehungskraft des Jihadismus wurde zwar deutlich kleiner in den vergangenen Jahren, aber Einzelne und kleine Gruppen werden auch weiterhin inspiriert werden. Diese Situation erfordert in den kommenden Jahren strenge Kontrolle und viel Widerstandsfähigkeit und Resilienz der Bevölkerung. Es herrscht keine große physische Gefahr, aber der Einfluss kann immens sein. Gute Antiterrorismusstrategien müssen daher bessere Wege, mit den Folgen umzugehen, inkludieren. Wir haben erfolgreiche Modelle in Manchester, Brüssel und Utrecht gesehen. Hoffen wir, dass Wien bald zu dieser Liste hinzukommt. (Fabian Sommavilla, 3.11.2020)