Verschwörungstheorien helfen dabei, vermeintlich Überblick über eine komplizierte Welt zu bewahren. In Krisen haben sie Hochkonjunktur – auch in der Corona-Pandemie. Steuert man nicht gegen, könnte daraus auch ein Sicherheitsproblem werden.

STANDARD: Warum liefern Pandemien so dankbares Futter für Verschwörungstheorien?

Fabris: Das tun nicht nur Pandemien, sondern überhaupt Ereignisse, die kollektiv Verunsicherung auslösen. Sie sind ein Katalysator für Verschwörungsmythen jeder Art. Es ist ein neuartiges Virus, wir wissen vieles nicht. Dann kommt noch dazu, dass Menschen nicht nur Angst haben, krank zu werden, sondern viele auch Existenzängste haben, weil sie ihre Jobs verlieren. Eine Verschwörungstheorie bietet eine einfache Erklärung und gibt Sicherheit.

STANDARD: Welche Rolle spielt das Moment der Unkontrollierbarkeit?

Fabris: Es ist zentral. Wenn man das Gefühl hat, selbst nichts an einer Situation ändern zu können, dann ist man anfälliger für Verschwörungstheorien, durch die man wieder das Gefühl erlangen kann, Kontrolle zu haben. Wenn man aber tief reingerutscht ist, kann es das genaue Gegenteil bewirken. Dann muss man sich vor allem fürchten und kann niemandem mehr vertrauen. Man ist in der Regel sehr schnell isoliert, auch in der Familie. Das geht schneller als bei Rechtsextremismus oder anderen Ideologien. Man gilt sofort als Spinner.

"Wenn man das Gefühl hat, selbst nichts an einer Situation ändern zu können, dann ist man anfälliger für Verschwörungstheorien", sagt Verena Fabris.
Foto: Cremer

STANDARD: Wie fruchtbar ist der Boden für solche Mythen hierzulande? Hat das etwas mit der großen Offenheit gegenüber Esoterik zu tun?

Fabris: Ja, das sind schwimmende Grenzen. Es gibt auf jeden Fall einen Zusammenhang. Durch Corona wird jetzt sichtbarer, was vorher schon da war. Das merken wir auch in der Beratungspraxis. Wir haben zudem eine lange Tradition von rechten Einstellungen. In letzter Zeit ist Rechtsextremismus noch stärker in die Mitte gerückt – und da gibt es sehr viele Verbindungen zu Verschwörungen, die wiederum oft antisemitisch sind.

STANDARD: Was war seit Ausbruch der Pandemie zu beobachten?

Fabris: Zwei Fallbeispiele aus der Beratungspraxis: Der Bruder hängt schon längere Zeit einer esoterischen Verschwörungstheorie an, er glaubt an Chemtrails. Das hat sich seit Corona exponentiell gesteigert. Er hat auch wirtschaftliche Schwierigkeiten bekommen und zudem viel Zeit vor dem Computer verbracht. Oder: Eine Mutter hat gehört, dass ein Ring von Pädophilen Kinder entführe und unter der Erde festhalte. Sie hat jetzt Angst, ihre Tochter allein wo hingehen zu lassen. Solche Erzählungen kann man jetzt vermehrt beobachten.

STANDARD: Sollte man sich da nicht in größerem Stil Gegenstrategien überlegen?

Fabris: Es soll deshalb jetzt eine neue Arbeitsgruppe dazu im bundesweiten Netzwerk Extremismusprävention und Deradikalisierug geben. Dort werden Strategien dagegen entwickelt. Denn die Problematik ist jetzt wirklich virulent: Verschwörungsideologien sind sowohl für Individuen als auch die Gesellschaft eine große Gefahr. Es gibt ja auch Attentäter, die das auch als Legitimation verwenden. Da gibt es einige blinde Flecken.

"Die Problematik ist jetzt wirklich virulent: Verschwörungsideologien sind sowohl für Individuen als auch die Gesellschaft eine große Gefahr", sagt Fabris.
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STANDARD: Wie sieht es mit Präventionsarbeit aus?

Fabris: Es braucht mehr gesamtgesellschaftliche Anstrengungen auf allen Ebenen. Und ja, es braucht auch mehr Ressourcen für Beratungsstellen. Besonders auf dem Land.

STANDARD: Sind auch Jugendliche in Gefahr?

Fabris: Das ist spannend: Aus der Forschung wissen wir, dass eher 30- bis Mitte-50-Jährige schneller in solche Verschwörungen reinkippen als Jugendliche. Eine Theorie ist etwa, weil Jugendliche als Digital Natives besser unterscheiden können, welche News fake und welche nicht fake sind. Eine andere Theorie legt nahe, dass es es damit zu tun hat, dass die wenigsten Verschwörungstheorien eine positive Zukunftsvorstellung haben – aber Jugendliche brauchen so etwas noch eher. Das heißt natürlich nicht, dass Jugendliche nicht betroffen sind, und das heißt auch nicht, dass Prävention hier nicht notwendig ist.

STANDARD: Verlieren immer mehr Menschen das Vertrauen in staatliche Institutionen?

Fabris: Ja, massiv. Aber das hat viele Ursachen: Wir wissen zum Beispiel, dass Personen, die aus dem sozial schwächsten Drittel kommen, verstärkt nicht mehr wählen gehen. Und da reden wir noch nicht von denen, die tatsächlich formal ausgeschlossen werden. Und dann kommt die Verunsicherung durch die Pandemie erst hinzu: Da muss man wirklich aufpassen, dass diese Leute sich nicht abgehängt fühlen. Je sicherer man sich in jeder Hinsicht fühlt, umso resilienter ist man gegen Verschwörungen. (Vanessa Gaigg, 17.11.2020)