Die Spitzen der Republik erweisen den Opfern des Wiener Terroranschlags die letzte Ehre: Die Sorgengemeinschaft sorgt für die Ihren.

Foto: Matthias Cremer

Der Terror von der Wiener Innenstadt trifft eine von Pandemiestress und Daseinsangst hart getroffene Gesellschaft. Dabei können sich demokratische Gesellschaften wie die unsere noch im Moment ihrer Herausforderung durch fundamentalistische Gewalttäter prinzipiell glücklich schätzen: Sie besitzen ein stabiles Institutionengefüge. In ihnen sind ausnahmslos alle Staatsbürger zur Beteiligung am Meinungsbildungsprozess aufgerufen. "Die parlamentarischen Demokratien des Westens", schrieb Sozialphilosoph Jürgen Habermas 1958 voll Zuversicht, würden durch die "Gesellschaft mündiger Bürger" erst verwirklicht. Die Staatsgewalt werde daher vom "freien und ausdrücklichen Consensus aller Bürger getragen".

Allein das Bewusstsein, ihr Pouvoir aus freien Stücken an die jeweils Regierenden abgegeben zu haben, macht Staatsbürger auch gegenüber drastischeren Einschränkungen ihrer Freiheit duldsam. Der zweite Lockdown, soeben aus Angst vor dem Spitalsbettenkollaps verordnet, trifft auf eine gutwillige, vom virologischen Dauerstress jedoch zusehends ermüdete Zivilgesellschaft. Die Zustimmungsreserven der allabendlich ins gelinde Gefängnis der eigenen vier Wände verbannten Staatsbürger halten nicht ewig vor.

Der barbarische Angriff auf die Wiener Innenstadtlokale, gewiss nicht zufällig zum Ausklang der Lokalsaison auf einer Amüsiermeile entfesselt, potenziert das allgemeine Stress-Erleben. Es ist, als würde ein neuer, das Kollektiv betreffender Stressfaktor mit einem anderen, altbekannten multipliziert. Wer zum Beispiel bisher im Wiener Raum meinte, er könne seine Kinder – trotz Pandemie – guten Gewissens in die Schule schicken, der wurde am Dienstag terrorbedingt auch dieser Illusion kurzfristig beraubt.

Übel kontaminierter Begriff

Man muss somit den übel kontaminierten Begriff des "Ausnahmezustands" keineswegs wie Carl Schmitt gebrauchen, um den Stress, der die Gesellschaft akut plagt, als Kompositum aufzufassen. Als multiples, bedrohlich aufblitzendes Geschehen; es gleicht einem Gewitterregen von Zumutungen, die von allen Seiten, scheint‘s, auf uns einprasseln.

Unsere demokratische Gesellschaft bildet, wie Peter Sloterdijk einmal festgestellt hat, einen psychopolitischen Großkörper. Wir alle finden uns zu jeweils wechselnden Stress-Gemeinschaften zusammen: Wir gehen Allianzen ein, schmieden gemeinsame Pläne und bearbeiten, je nach Themenlage, mehr bis minder akut anfallenden Stress.

Seinetwegen bilden die Menschen "Sorgengemeinschaften". Diese sind fluid. Dabei laufen demokratische Gemeinschaften immer häufiger Gefahr, Menschen, die keinen Zugang zu gerade kurrenten Diskursen finden, "zu verlieren" oder an das Wutbürgertum verloren zu geben. Solche Moderne-Verweigerer fallen aus dem Netz der Daseinssicherung heraus, selbst wenn sie über Internetzugang verfügen.

Wer daher im Buch der Gesellschaft blättern möchte, wird auf ein ganzes Kompendium des belasteten Lebens stoßen. Einerseits sind unsere Sorgen-Systeme auf stressierende Inputs angewiesen: Jeder Problemreiz, der die Gemeinschaft in nervöse Schwingung versetzt, ruft ein solches System ins Leben.

Zum anderen droht den Empörungsgemeinschaften die Überwältigung durch die Permanenz der Krisen. Diese beginnen einander sogar zu überlagern. Ihre Kapazitäten könnten eines gar nicht fernen Tages von der schieren Tragelast der auf sie einstürzenden Probleme erschöpft sein. Aus dem Stresskonzept würde, peu à peu, der endgültige Kollaps resultieren. Die Auswirkungen auf unser Sozialgefüge aus Institutionen, Organisationen und Verkehrsmitteln wären verheerend.

Krise hoch x

Das Auftürmen immer noch höherer Problemberge sorgt für die Installation eines neuen, mutierten Ausnahmezustands, der Krise hoch x. Chronisch erzeugter Stress könnte irgendwann auch für die Aushöhlung unserer Demokratien sorgen, mit unabsehbaren Auswirkungen auf das Konzept von Freiheit und Wohlfahrt für alle. Die Populisten und Fake-News-Produzenten arbeiten bereits heftig mit an der Erhöhung unserer Stressbilanz. Sie geben sich damit als die Wunderheiler jener Epidemie aus, die sie mithelfen zu verbreiten. (Ronald Pohl, 4.11.2020)