Ein Livevideo vom Wiener Schwedenplatz, das auf Twitter geteilt wurde.

Foto: Screenshot

Zu jedem Terroranschlag gehört der Insta-Terror, der simultan in sozialen Medien einsetzt. Fotos und Videos von Augenzeugen, die von Schrecken und Furcht künden. Erschütterung kommt vor Information: Ein Blick aus einem Fenster am Schwedenplatz. Man hört Schüsse, sieht verwackelte Bilder von Menschen, die in Deckung gehen. Jemand ruft: "Kopf rein." Auf anderen: Menschen in Panik, auf der Flucht über den Stephansplatz; eine Blutlache vor einem Innenstadtlokal. Das Ereignis und sein digitaler Abdruck verschmelzen zunehmend.

Für die Zuschauer, die sich in der Nacht auf Dienstag ein Bild von der Lage verschaffen wollten, sah die Situation zunächst chaotisch aus. Auch deshalb, weil die medialen Flächen unterschiedliche Wirklichkeitsszenarien geboten haben: Der ORF berichtete aus gebührender Distanz und hielt sich – anders als mancher Privatsender – an die Weisung der Polizei, keine Bilder vom unmittelbaren Geschehen auszustrahlen. Reporter wie Martin Thür standen auf den Brücken oder jenseits des Donaukanals, wobei die Blaulichter in der Ferne wie der Nachweis für den Ausnahmezustand blinkten.

Anderes Bild auf Twitter

Konträr dazu sah die Situation auf Twitter und Co aus: ungefilterte Bilder der Panik und viel Raum für Spekulationen (Stichwort: Entführung) von Meinungskapitänen. Im Freunde-Chat der Tochter war interessanterweise zuerst von Fake-News die Rede (so viel zu gesunder Medienskepsis); so lange, bis private Straßenbilder aus dem ersten Bezirk für Bestürzung sorgten. Auf diesem Weg werden Ereignisse authentifiziert, wenn man nicht auf traditionelle Medien zurückgreift.

Von den Attentätern in Mumbai im Jahr 2008 erfuhr man später, dass sie sich mit ihren Blackberrys über die Berichterstattung informierten. Das lautstarke Echo in (westlichen) Medien war schon immer eines der Ziele neuerer terroristischer Gewalt. Die im Netz geteilten Bilder schließen dagegen an eine fotografiegeschichtliche Praxis des Dokumentierens an, der schon Susan Sontag einen räuberischen Gestus zugeschrieben hat. Im Blick der Kamera liegt Gewalt, wenn Menschen auf eine Weise betrachtet werden, wie sie sich selbst nicht sehen können. Zugleich wird das immer realer, was als fotografierbar gilt.

Offline und online

Es darf bereits als Gemeinplatz gelten, dass im Zeitalter der sozialen Medien die Tendenz zu fragwürdiger Zeugenschaft noch zugenommen hat. Für den Medientheoretiker Nathan Jurgenson, der sich ausführlich mit ihrer Rolle beschäftigt hat, sind die neuen Technologien bereits zu einem Teil von uns geworden und damit auch direkt an unser dokumentarisches Bewusstsein angeschlossen. Die Trennung zwischen einem "Online"-Dokument und einer – vermeintlich unmittelbareren, oft nostalgisch besetzten – "Offline"-Erfahrung gehört für ihn der Vergangenheit an.

Ein Terroranschlag wie jener von Montagabend ist wie ein Lackmustest dieser "erweiterten Realität", in der wir uns bewegen: Die obszönen Bilder – jene, die mehr Reales entblößen – lassen sich nicht aussperren, sondern drängen durch alle medialen Schlupflöcher, die sich bieten, und tragen damit zum Bild der "war zone" bei, das um die Welt geht. Nicht nur durch den Terror selbst, auch durch diese Verquickung der Bilder stehen wir nun auf internationalem Niveau. (Dominik Kamalzadeh, 3.11.2020)