Diese Schachtel mit hunderten Fotografien stand am Beginn von Margit Berners jahrelangen Recherchen.

NHM Wien / Wolfgang Reichmann

Es ist ein Projekt, das Margit Berner seit langer Zeit begleitet – und das nun zu einem beeindruckenden Abschluss kam. Begonnen hat es vor über 20 Jahren mit einem Zufallsfund: Die Forscherin stieß 1997 in der anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien (NHM), wo sie seit dem Ende ihres Studiums der Humanbiologie und Anthropologie arbeitete, auf zwei Mappen, die den schichten Titel "TJ Tarnow 1942" tragen und in denen sich Unterlagen zu anthropologischen Untersuchungen fanden.

Dazu fand sie hunderte nummerierte schwarz-weiße Porträtfotografien in einer Pappschachtel mit der Aufschrift "Tarnow Bilder". Dass "TJ" für Tarnower Juden stand, war Berner schnell klar. Sehr viel länger sollten die Recherchen dauern, bis die Wissenschafterin im Detail wusste, wer diese abgebildeten Personen waren und was genau sich hinter ihren Schicksalen verbarg. Die polnische Stadt Tarnów und das Jahr 1942 ließen das Schlimmste befürchten.

Tiefe NS-Verstrickungen

Dass ihr eigenes Fach tief in den Nationalsozialismus verstrickt war, hatte Margit Berner schon während ihres Studiums gehört: Anthropologen lieferten als "Rassenforscher" vermeintliche wissenschaftliche Grundlagen für den Rassenwahn der Nazis und damit letztlich auch für die Shoah. In den Beständen der eigenen anthropologischen Sammlung am NHM, die Berner erstmals aufarbeitete, entdeckte sie jede Menge Beweismaterial für diese Verstrickungen, das bis dahin peinlich verschwiegen worden war.

Margit Berner erforscht seit vielen Jahren die belastete Geschichte ihres Fachs und die der "sensiblen Sammlung" an der Abteilung für Anthropologie.
Foto: NHM Wien / Wolfgang Reichmann

So gab es im Naturhistorischen Museum schon im Frühjahr 1939 eine Ausstellung mit dem Titel "Das seelische und rassische Erscheinungsbild der Juden", kuratiert vom NHM-Anthropologen Josef Wastl. Mit der Schau sollte, wie es in einem Zeitungsbericht hieß, "durch rein wissenschaftliche Methoden" gezeigt werden, "dass die Unterscheidungsmerkmale der Juden durchwegs erbbedingt sind und eine Lösung des Judenproblems nur durch eine strenge Scheidung der Juden von den Nichtjuden möglich ist".

Zur Begründung der "Rassenlehre" brauchten die Anthropologen Daten und Anschauungsmaterial. Josef Wastl und seine Kollegen wussten dafür die Ausnahmesituation des NS-Terrors für sich zu nützen – so etwa auch im September 1939, nur wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Da die Gefängnisse überfüllt waren, internierten die Nationalsozialisten hunderte jüdische Männer vor ihrer Deportation ins KZ Buchenwald im Praterstadion.

Vermessen(d)e Forschung

Josef Wastl und sein zehnköpfiges Team ließen sich die Chance nicht entgehen und vermaßen 440 der Männer im Alter zwischen 16 und 83 Jahren nach den damaligen Kriterien der "Rassenforschung". Die wenigsten von ihnen überlebten das KZ. Da die Namen der untersuchten Personen bekannt waren, gelang es Margit Berner, mit einigen wenigen von ihnen oder Nachfahren Kontakt herzustellen.

Wer aber steckte hinter den Fotos, die sich in der Schachtel befanden und auf denen insgesamt 565 Personen abgebildet waren? "Ich wusste, dass die Aufnahmen und die beiden Mappen in den 1980er-Jahren aus dem Nachlass von Dora Maria Kahlich in unsere Sammlung gelangt waren", erzählt Berner. "Kahlich war eine Wiener Anthropologin, die ein halbes Jahrhundert vor mir ebenfalls an der Uni Wien Anthropologie studiert hatte und danach für das anthropologische Institut der Uni arbeitete."

Dora Maria Kahlich (stehend) bei der anthropologischen Vermessungsarbeit, hier bereits im Jahr 1934.
FotoFoto: NHM Wien, Anthropologische Abteilung:

Weitere Hinweise erhielt Berner vom deutschen Historiker Götz Aly. Im 1991 erschienenen Buch "Vordenker der Vernichtung", das Aly 1991 mit der Politikwissenschafterin Susanne Heim verfasst hat, berichten die beiden über die Forschungen des Instituts für Deutsche Ostforschung. Dabei erwähnen sie auch eine anthropologische Untersuchung, die Kahlich zusammen mit ihrer Wiener Kollegin Elfriede Fliethmann vom 23. März bis zum 4. April 1942 im Ghetto von Tarnów durchführte. Thema der Studie: "Die Erforschung typischer Ostjuden", das Ziel: den "Beweis" ihrer angeblich "rassischen Minderwertigkeit" zu liefern.

Aly wusste auch, dass die Unterlagen des Instituts für Deutsche Ostforschung nach dem Krieg an das Smithsonian National Museum of Natural History in Washington, D.C., gegangen waren. Dort fand Margit Berner dann unter anderem die Namensliste zu den 565 Personen, die genötigt worden waren, an den Untersuchungen der beiden Wiener Anthropologinnen teilzunehmen.

Recherchen in vielen Archiven

Weitere Recherchen führten Berner, immer wieder unterbrochen durch ihre anthropologische Forschungsarbeit, unter anderem in Archiven in Berlin, Ludwigsburg, Tarnów, Krakau, Warschau und Jerusalem, wo sie auf weitere Spuren der Untersuchung, aber vor allem der fotografierten und vermessenen Personen stieß.

Die Ergebnisse dieser jahrelangen und minutiösen Recherchen sind nun im eindrucksvollen Band "Letzte Bilder" und seit kurzem in der von der Kritik hochgelobten Ausstellung "Der Kalte Blick" dokumentiert, die in der Topographie des Terrors in Berlin zu sehen ist.

Video von der Eröffnung der Ausstellung in Berlin.
Topographie des Terrors

Berner erzählt in ihrem Band dabei zum einen die harten Fakten rund um die Untersuchungen der beiden Wiener Anthropologinnen. Zum anderen – und das ist Berners besonderes Verdienst – rekonstruiert sie in mühevoller Kleinarbeit die Lebensschicksale, die sich hinter den Fotos verbergen, und konnte mit einigen Überlebenden Kontakt aufnehmen.

Die harten historischen Fakten

Zunächst zu den historischen Fakten: Anfang 1942 lebten in der westgalizischen Stadt Tarnów etwa 30.000 Juden, viele von ihnen waren von den NS-Besatzern aus Krakau und Umgebung in die Stadt umgesiedelt worden. Für die beiden Anthropologinnen war Tarnów damit ein idealer Untersuchungsort, und auch sie konnten sich wieder auf die Zusammenarbeit mit den NS-Behörden stützen.

Der Sicherheitsdienst der SS befahl Männern, Frauen, Kindern aus insgesamt 106 Familien, an den Vermessungen teilzunehmen. Die Wiener Forscherinnen registrierten biografische Daten, vermaßen die Körper und bestimmten Haar-, Haut- und Augenfarbe mit anthropologischen Instrumenten. Auch Nacktfotos wurden angefertigt sowie jeweils vier anthropometrische Aufnahmen: von vorn, in der Drittelansicht, im Profil und frontal, den Kopf in den Nacken gelegt.

"Das waren in den allermeisten Fällen die letzten Bilder dieser Menschen", sagt Berner. Denn wenige Wochen später, im Juni 1942, begann der Massenmord. Tausende Menschen wurden auf dem Marktplatz von Tarnów zusammengetrieben, einige wurden gleich an Ort und Stelle getötet.

Im Juni 1942 wurden die Juden von Tarnów auf dem Marktplatz der südpolnischen Kleinstadt zusammengetrieben. Die meisten wurden wenig später ermordet.
Foto: Belarussisches Nationalarchiv

Die meisten wurden entweder ins Vernichtungslager Belzec deportiert und dort ermordet oder auf dem jüdischen Friedhof von Tarnów oder in einem Wald in der Nähe erschossen. Fliethmann berichtete ihrer Kollegin Kahlich im Herbst 1942 in einem Brief, dass von "unseren" Juden fast niemand mehr da sei. "Unser Material hat also heute schon Seltenheitswert."

Den Opfern Namen geben

Von den 565 untersuchten jüdischen Männern, Frauen und Kindern von Tarnów haben nur 26 die Shoah überlebt, wie Berner bei ihren jahrelangen Recherchen herausfand. In ihrem Buch und der Ausstellung gibt sie allen Namen, stellt – wenn möglich – frühere Familienfotos den anthropologischen Aufnahmen gegenüber und berichtet vom Schicksal der Familien.

Blick in die Ausstellung "Der kalte Blick" in Berlin mit den hunderten von Porträtaufnahmen der in Tarnów vermessenen Personen.
Foto: Jürgen Sendel/Stiftung Topographie des Terrors

Mit einigen der 26 Überlebenden und ihren Nachfahren konnte Berner Kontakt aufnehmen – so etwa mit Viktor Dorman, der das KZ Mauthausen überstand, oder mit Ita Kupfermann-Assif, die Auschwitz überlebte und 1945 aus dem KZ Bergen-Belsen befreit wurde.

Von deren Tochter, die in Israel lebt, erhielt Margit Berner im Jänner einen Brief. Nach Dankesworten für die Fotos schrieb sie folgende Worte: "Es lief mir kalt über den Rücken. Ja, das ist die Familie meiner Mutter, alle Namen stimmen. Wir besitzen über sie nicht viele Unterlagen, schon gar keine Fotos. (...). Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie überwältigend es ist, meine Großeltern, meine Tante und meine Onkel zum ersten Mal zu sehen." (Klaus Taschwer, 9.11.2020)

Margit Berner, "Letzte Bilder. Die ,rassenkundliche‘ Untersuchung jüdischer Familien im Ghetto Tarnów 1942". € 40,10 / 292 Seiten. Hentrich & Hentrich: Berlin, 2020