Der "Islamische Staat".

Foto: AFP

Der "Islamische Staat", zu dem sich der Attentäter von Wien bekannte, ist zuletzt etwas aus dem öffentlichen Fokus geraten: Dabei waren sich stets alle Experten einig, dass das Ende der territorialen Herrschaft des IS über Teile des Irak und Syriens keinesfalls das Aus für die Terrororganisation bedeutet hatte. Als solche war der IS auch nach dem Verlust des letzten von ihm kontrollierten Gebiets im Frühjahr 2019 und der Tötung seines Führers Abu Bakr al-Baghdadi im Herbst 2019 aktiv, wenngleich die großen Attentate in Europa auszubleiben schienen.

Für jene Länder weltweit, die in den vergangenen Jahren vom IS-Terror betroffen waren, war es eine Erleichterung zu sehen, dass die Rekrutierungskraft des IS erschöpft zu sein schien: Das Projekt, das junge Muslime und Musliminnen, nicht wenige davon Konvertiten, in den Nahen Osten lockte, war beendet. Dass nun in Wien gerade ein Täter mit diesem Profil zuschlägt, der den Behörden nicht nur wohlbekannt war, sondern scheinbar auch eine Deradikalisierung durchlief, ist ein Weckruf.

"Prinzen der Gläubigen"

Unter den vielen Abbildungen, die in Onlinemedien und Social Media am Tag danach zu sehen waren, ist auch die eines Kämpfers, der die "Bayah", den Treueeid, dem "Aminul Mumineen Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurayshi" schwört, wie als Bildunterschrift zu lesen ist. Nur wenige werden damit etwas anfangen können, und doch handelt es sich bei dem "Prinzen der Gläubigen" (Amir al-Mu’minin) um den Nachfolger des vor einem Jahr bei einer US-Operation in Syrien getöteten IS-"Kalifen". Blieb schon Abu Bakr al-Baghdadi, verglichen mit Al-Kaida-Führer Osama bin Laden, eher im Hintergrund, so steht der neue Mann an der Spitze des IS völlig im Schatten.

Die Geheimdienste gehen davon aus, dass sich hinter dem Aliasnamen Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurayshi (oder al-Qurashi, beides ist richtig) ein Mann verbirgt, der wahrscheinlich 1976 in der Nähe des irakischen Mossul in eine turkmenische Familie geboren wurde. Sein richtiger Name dürfte Amir Mohammed Said Abd al-Rahman al-Mawla sein. Dass er kein Araber ist, sondern turkmenischen Hintergrund hat, ließ Experten zuerst vermuten, dass er nur eine Übergangsfigur sei.

Telegram-Botschaft

Wie sein Vorgänger hat er eine religiöse Ausbildung genossen, demnach war er im "Islamischen Staat" Richter – was ihm den Ruf besonderer Grausamkeit eingebracht hat. Dass er die IS-Führung übernehme, kommunizierte die Organisation Anfang November 2019 per Telegram – wo der IS weniger Anhänger als früher, aber dafür sicherer erreicht. Al-Mawla beziehungsweise al-Qurayshi wurde explizit nicht nur als Kommandant, sondern auch als geistliches Oberhaupt des IS – ein neuer "Kalif" – bezeichnet.

Die Ankündigung war gespickt mit Drohungen, vor allem gegen die USA: "Frohlocke nicht, Amerika. Der neue Erwählte wird dich allen früheren Horror vergessen lassen, die Tage al-Baghdadis werden euch im Nachhinein süß vorkommen."

Selbstermächtigung

Selbstverständlich kann der IS nicht an seine alte Stärke anknüpfen – die besteht aber in der noch immer bestehenden Anhängerschaft, die sich auch selbstermächtigt, das heißt, ohne Befehl von oben mobilisiert. Aufrufe des IS an seine Gefolgschaft, ihre Gesellschaften anzugreifen, auf welche Art und Weise immer sie können, gibt es immer wieder. Die wiederaufgeflammte Auseinandersetzung über die Mohammed-Karikaturen in Frankreich ist so ein Moment, in dem sich solche Täter in Bewegung setzen.

Organisatorisch ist der IS aus Al-Kaida entstanden, konkret aus der nach der US-Invasion gegründeten "Al-Kaida im Irak", die sich 2006 in "Islamischen Staat im Irak" umbenannte und sich nach Beginn des Kriegs in Syrien als "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" (beziehungsweise "al-Sham", Levante) von Al-Kaida lossagte. Als Ibrahim Awad al-Badri alias Abu Bakr al-Baghdadi im Juni 2014 in Mossul sein "Kalifat" ausrief, ließ er den Zusatz "in Irak und Syrien" fallen, um den weltweiten Anspruch des IS zu betonen. Und der grausame Spuk ist immer noch nicht zu Ende. (Gudrun Harrer, 3.11.2020)