Rabbiner Schlomo Hofmeister am Dienstag nahe der Synagoge in der Seitenstettengasse.

Foto: Matthias Cremer

Knapp vier Jahrzehnte nach den tödlichen Schüssen vor ihrem Wiener Stadttempel durchlebt die jüdische Gemeinde seit Montagnacht erneut einen Ausnahmezustand: Seit den blutigen Terroranschlägen, die gegen 20 Uhr in der Seitenstettengasse – in unmittelbarere Nähe der Synagoge – ihren Ausgang nahmen, sind all ihre Gebetshäuser in Österreich vorläufig geschlossen. Ebenso koschere Restaurants, Supermärkte, Schulen. Dazu wurden am Dienstag die ohnehin schon restriktiven Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen verstärkt.

Denn bis dato herrscht noch keine Gewissheit darüber, ob der Anschlag nicht vor allem der Israelitischen Kultusgemeinde galt, die rund 7000 Mitglieder zählt. Als gesichert gilt nur, dass der "neutralisierte Täter", wie es im Polizeisprech heißt, auf zwei Menschen vor dem Stadttempel geschossen hat.

Synagoge geschlossen

Fest steht auch, dass Oskar Deutsch, der Präsident der Wiener Kultusgemeinde, für seine Gläubigen in den dramatischen Stunden fürs Erste rasch Entwarnung geben konnte. Schon um 20.45 Uhr, nach den ersten Gewehrsalven, als für die Exekutive die Lage vor Ort noch als äußerst diffus galt, konnte Deutsch ihnen folgende unmissverständlichen Botschaften übermitteln: Die Synagoge sei "seit Stunden geschlossen", niemand aus der Gemeinde sei daher dort anzutreffen, auch er selbst in Sicherheit, und: Die Mitglieder seien allesamt aufgerufen, ihr Zuhause nicht zu verlassen.

Dieser Aufruf hatte seine Gründe. Denn allen voran in der jüdischen Gemeinde rüttelt der Anschlag vom Montag entsetzliche Erinnerungen wach – an das Attentat vor dem Stadttempel im Sommer 1981. Damals versuchten zwei palästinensische Terroristen der Abu-Nidal-Gruppe mit Maschinenpistolen und Handgranaten die Synagoge in der Seitenstettengasse zu stürmen. Die Schreckensbilanz von einst: Zwei tote Besucher, mehr als eineinhalb Dutzend weitere Menschen brachen im Kugelfeuer verletzt zusammen.

Notruf um 20.03 Uhr

Bis heute hält sich in der Community der Glaube, dass die damals – noch freiwilligen – Wachposten der Gemeinde Schlimmeres vereitelt haben. Weil diese sofort die Türen zur Synagoge geschlossen hatten, konnten die Terroristen nicht in den Tempel eindringen, lautet eine der vielen Erzählungen. Die Täter wurden unmittelbar nach dem Attentat gefasst, einer davon gestand auch den Mord an dem Wiener SPÖ-Stadtrat Heinz Nittel – doch das prägt die Community bis heute.

Rabbiner Schlomo Hofmeister, der nahe der Synagoge wohnt, war einer der ersten Augenzeugen des aktuellen Anschlags: "Ich habe Schüsse gehört, bin zum Fenster und habe gesehen, wie jemand auf die Menschen, die in den Schanigärten sitzen, schießt", erzählt er. Sofort habe er seiner Familie zu verstehen gegeben, sich vom Fenster fernzuhalten, und um 20.03 Uhr die Polizei alarmiert. Dass der Angreifer weiß bekleidet war, könne er nicht sagen.

Getötetes Kindermädchen 1981

Und auch Hofmeister erzählt vom Sommer 1981 in Wien: Als das Kindermädchen eines Ehepaars in seinem Haus sich einst schützend zwischen die Terroristen und seinen Nachwuchs gestellt hatte – die Frau wurde damals erschossen. Diesen Montagabend war dasselbe Ehepaar zwar nicht zu Hause, doch die Frau musste sich am Fleischmarkt bis drei Uhr morgens in einer Tanzschule in Sicherheit bringen.

Seit Dienstag verzeichnet das psychosoziale Zentrum der Kultusgemeinde, Esra, das unter anderem Holocaust-Überlebende betreut, entsprechende telefonische Anfragen, wie dessen Geschäftsführer Peter Schwarz bestätigt. "Wir sind nun gefordert, für unsere Klienten und Patienten da zu sein", sagt Schwarz – auch wenn man wegen der Umstände derzeit nur telefonische Hilfe aufbieten könne.

Der Tag danach: Stehengelassene Getränke nahe eines der Tatorte.
Foto: Alex Halada/AFP

Darunter fällt in diesen Tagen etwa die Unterstützung für den hochbetagten Gläubigen, der am Montag Zeuge der Bluttaten wurde. Oder die Studentin, die in der Terrornacht eingeschlossen an der Wiener Uni verbringen musste. Und besonders häufig gefragt ist bei Esra derzeit, wie man Kindern am besten erklärt, was sich Montagabend zugetragen hat. Rabbi Hofmeister hatte bei seinen eigenen Kindern noch keine Zeit dazu.

Warnung vor Videostars

Sarah Vasak, interimistische ärztliche Leiterin des Zentrums mit Schwerpunkt Psychotraumatologie, erklärt den akuten Behandlungsbedarf von Gemeindemitgliedern auch damit, dass die Seitenstettengasse den Wiener Juden als "besonders wichtiger Ort" gilt – umso rascher sei nach den Anschlägen Begleitung angesagt: "Über je mehr traumatische Erfahrungen ein Mensch verfügt, desto höher ist sein Risiko, dass es erneut zu Traumatisierungen kommt, die sich verfestigen."

Nicht nur verängstigten Mitgliedern der Kultusgemeinde rät die Expertin daher dringend davon ab, sich die kursierenden Videos von Montagnacht "in Permanenz" anzusehen: "Besser ist es, die Nachrichtensendungen mitzuverfolgen." Und ihr Kollege Schwarz ergänzt: "Das ist genau das, was Terroristen erreichen wollen – mit jedem Weiterreichen solcher Bilder unterstützt man ihre Bestrebungen, uns zu verängstigen. Uns aber ist es wichtig, dass wir jetzt so rasch wie möglich zur Normalität zurückkehren können."

(Nina Weißensteiner, Colette M. Schmidt, 4.11.2020)