Ein Bild aus besseren Tagen, als viele Flüge verspätet waren. Passagiere müssen dafür entschädigt werden.

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Bei Rechtsexperten schrillen die Alarmglocken. Während aufgrund der Hinhaltetechniken der krisengeschüttelten Fluggesellschaften noch immer viele Passagiere auf die Erstattung ihrer Flugtickets aus diesem Sommer warten würden, wolle die EU, die Rechte von Reisenden "dauerhaft um 80 Prozent zu reduzieren". Die EU plane in einem kursierenden Entwurf Änderungen bei der EU-Verordnung EG 261, warnen einige auf die Vertretung von Fluggastrechten spezialisierte Anwälte, die sich zur Association of Passenger Rights Advocates (APRA) zusammengeschlossen haben.

Entschädigung

Es geht um Entschädigungszahlungen, die den europäischen Reisenden laut Fluggastrechteverordnung zustehen. Bei verspäteten oder gestrichenen Flügen sowie bei Nichtbeförderung haben Fluggäste unter bestimmten Umständen Anspruch auf eine finanzielle Entschädigung von bis zu 600 Euro pro Person. Der Grund für die Verspätung muss von der Fluggesellschaft verursacht worden sein. In Situationen, die als "außergewöhnliche Umstände" gelten, wie Stürme oder medizinische Notfälle, ist die Airline von der Verpflichtung zur Entschädigung der Passagiere befreit.

Ein Kern der geplanten Änderung betrifft nun laut den APRA-Juristen das Ausmaß der Verspätung, ab dem eine Entschädigung für vermeidbare oder direkt durch die Fluggesellschaft verursachte Unpünktlichkeiten geleistet werden muss.

Technische Probleme

Zudem sollen Fluggesellschaften von der Haftung bei mechanischen Problemen befreit werden, warnen die Advokaten. Sei ein Flug wegen technischer Probleme verspätet oder müsse deswegen gestrichen werden, würden die Passagiere um Entschädigungen umfallen.

Für die österreichische Anwältin Friederike Wallentin-Hermann eine Rückkehr in die Steinzeit der Passagierrechte. Wallentin-Hermann hat vor zwölf Jahren vor dem Europäischen Gerichtshof erkämpft, dass die Alitalia für eine durch technische Probleme am Flugzeug verursachte Verspätung verantwortlich gemacht werden muss. Das Gericht kam damals zu dem Schluss, dass Fluggesellschaften technische Probleme mit dem Flugzeug nicht als außergewöhnlichen Umstand einstufen können, und schloss damit "eine große Lücke, dank derer Fluggesellschaften bis dahin die Zahlung von Entschädigungen für stornierte Flüge umgehen konnten". Es habe gedauert, bis die Konsumenten gelernt hätten, ihre Rechte durchzusetzen, so die Juristin. "Seit fünf Jahren merkt man, dass sie mündig geworden sind, und jetzt droht der Rückschritt", sagt Wallentin-Hermann im STANDARD-Gespräch.

Sie habe eine Fülle an entsprechenden Klagen auf dem Tisch. Immerhin sei ein Drittel bis die Hälfte aller Stornierungen auf technische Mängel zurückzuführen. Millionen von Fluggästen würden ihren Rechtsanspruch auf Entschädigung verlieren, sollte eine Revision in der beschriebenen Form verabschiedet werden.

Akzeptanz testen

Tatsächlich handelt es sich bei dem Entwurf zunächst um ein sogenanntes Nonpaper – das von der kroatischen EU-Ratspräsidentschaft den Vertretern der anderen EU-Staaten informell vorgelegt wurde, um die Akzeptanz zu testen.

Ursula Pachl, stellvertretende Generaldirektorin des Europäischen Verbraucherverbands (BEUC), hält den nicht ganz neuen Vorstoß für "nicht richtig". Pachl geht allerdings davon aus, dass es weder unter dem deutschen EU-Ratsvorsitz noch unter dem portugiesischen "Appetit gibt, dass in Krisenzeiten Änderungen vorgenommen werden, die auch nach der Krise gelten" und die die Verbraucherrechte in die Steinzeit katapultieren würden. Was sie schon auch sieht: "Es liegt in der Luft und könnte wieder Thema werden." (rebu, 4.11.2020)