Szene vor einem Jihadisten-Prozess in Graz: Der IS hat immer noch einen Coolness-Faktor.

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Die Resozialisierung ist auf fatale Weise gescheitert. Als K. F. in einem heimischen Gefängnis gelandet war, weil er sich in Syrien dem "Islamischen Staat" (IS) hatte anschließen wollen, steckte ihn die Justiz auch in ein Deradikalisierungsprogramm. In der Folge erschienen die Resultate offenbar ermutigend: Im April 2019 bekam der spätere Attentäter von Wien zwar 22 Monate Haft aufgebrummt, doch bereits im Dezember ging er auf Bewährung frei. Weil die Untersuchungshaft angerechnet wird, waren zu dem Zeitpunkt zwei Drittel der Strafe abgebüßt.

Wie es dazu kam? Zum konkreten Fall dürfe er nichts sagen, erwidert Moussa Al-Hassan Diaw, Mitbegründer des Vereins Derad, der F. betreut hat und mit diesem dem Vernehmen nach noch im Oktober einen Termin absolviert hat. Allgemein hält Diaw aber fest: Bei bedingt entlassenen Straftätern, die nach wie vor in Betreuung sind, bestehe immer ein Gefahrenpotenzial, sonst wären die gerichtlichen Auflagen vorzeitig beendet worden – hundertprozentige Sicherheit gebe es da nie. Vor möglichen Attentaten habe Derad stets grundsätzlich gewarnt.

Harter Kern

Aus allen Schichten stammen die Häftlinge, die der Religionspädagoge und sein Team aus der islamistischen Ideologie zu lösen versuchen. Gemeinsam sei ihren Geschichten Frust über die eigene Lebenssituation, vom fehlenden Job bis zur zerbrochenen Beziehung, sagt Diaw – was Verführer virtuos auszunützen wussten.

"Der IS hat immer noch einen großen Cool-Faktor", sagt Daniela Pisoiu vom Institut für Internationale Politik und sieht in Westeuropa trotz der Niederlagen der Jihadisten in Syrien und im Irak ein Comeback der von Männlichkeitsgehabe und Todeskult geschwängerten "IS-Subkultur": Es handle sich bei weitem um keine Parallelgesellschaft, aber um einen harten Kern, der in sozialen Medien sehr präsent sei.

Mit professioneller Propaganda schafften es die "Spindoktoren" der Terrororganisation, das Gefühl anzustacheln, dass Muslime von der westlichen Welt stets benachteiligt und unterdrückt würden, analysiert Pisoiu. Umso wichtiger sei es, dass Politik und Gesellschaft auf die Anschläge nicht überreagierten: Kämen nun pauschale Vorwürfe an die muslimischen Bürger auf, spiele das dem IS nur in die Hände. "Ich bin deshalb froh, wie die Politiker bisher reagiert haben", sagt die Expertin: "Niemand hat irgendwem den Krieg erklärt, auch der Innenminister sprach von Zusammenhalt."

Die Berichterstatter sieht Pisoiu ebenfalls in der Pflicht, um dem IS das Wasser abzugraben. Wenn Medien Fotos und Videos von Tat und Täter wochenlang auf- und abspielten, produziere dies genau jenes Heldenimage, nach dem sich die Terroristen sehnten. Sie empfiehlt deshalb, wie bei den Anschlägen in Neuseeland vorexerziert, Täter möglichst gar nicht erst beim Namen zu nennen.

Tunnelblick

"Es brodelt schon länger", sagt Verena Fabris, Leiterin der beim bundesweiten Netzwerk offene Jugendarbeit angesiedelten Beratungsstelle Extremismus, die 2014 wegen der Jihad-Reisen nach Syrien gegründet wurde und als Ansprechpartner für Eltern, Lehrer und Sozialarbeiter dient. Im Juni kam es in Favoriten zu Angriffen auf eine kurdische Frauendemo, unlängst randalierten dutzende Jugendliche ebendort in einer Kirche. Man dürfe zwar keinen Zusammenhang zum Wiener Anschlag herstellen, sagt Fabris, aber: "Radikalisierung fängt auch irgendwo an. Etwa bei Hatespeech, einem Nährboden für solche Tendenzen. Die Situation ist ernst, man kann das nicht als punktuelle Aggressionsentladung abtun."

Repression allein löse das Problem nicht, so die Expertin: "Mit alternativen Angeboten lassen sich Jugendliche, die in erster Linie provozieren wollen und Grenzen austesten wollen, in der Regel gut erreichen. Aber dafür brauchen wir mehr Sozialarbeit, mehr Geld für sogenannte Brennpunktschulen, mehr Ressourcen für Jugendarbeit. Die Gretchenfrage lautet: Wer zahlt’s?" Außerdem fordert Fabris ein flächendeckendes Aussteigerprogramm für IS-Sympathisanten und ein besseres Monitoring der sozialen Medien.

Wenn die Personen erst einmal hochideologisiert sind, sei keine Deradikalisierung mehr möglich: "Fanatisierte Personen haben einen Tunnelblick." (Gerald John, Vanessa Gaigg, 3.11.2020)