Nahost- und Terrorismusexperte Guido Steinberg schreibt in seinem Gastkommentar über die österreichische Dschihadistenszene und wie man sie bekämpfen soll.

Der Wiener Schwedenplatz am Tag nach dem Terroranschlag: Blumen und Kerzen im Gedenken an die Opfer.
Foto: AFP / Joe Klamar

Nach Conflans-Sainte-Honorine, Nizza und Dresden hat ein islamistischer Attentäter nun auch Wien heimgesucht. Es ist eine regelrechte Welle von Anschlägen, die Europa seit September erschüttert, doch der in Österreich hätte leicht der folgenreichste werden können. Nur hier besaß der Terrorist Schusswaffen, sogar ein Schnellfeuergewehr, sodass es vor allem seinem fehlenden Training geschuldet gewesen sein dürfte, dass nicht noch viel mehr Menschen starben.

Dass es Österreich traf, darf nicht überraschen, denn die jihadistische Szene dort ist stark. Dies zeigte beispielsweise die Zahl der Syrienkämpfer, die sich zwischen 2012 und 2017 dem Islamischen Staat (IS) und anderen Organisationen in Syrien anschlossen. Diese lag bei 250 Mann und damit unter den höchsten in Europa, wenn man sie ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl setzt. Unter den österreichischen Kämpfern dominierten die Tschetschenen, die rund die Hälfte aller Ausreisenden stellten. In der jihadistischen Szene im Land sind außerdem Bosnier und Albaner aus dem Kosovo und Mazedonien stark vertreten. Viele von ihnen gelten als besonders gewaltbereit und haben Kontakte in die organisierte Kriminalität – was der Grund dafür sein könnte, dass der Täter in Wien sich das Schnellfeuergewehr beschaffen konnte.

Charismatische Prediger

Die Ursache der erstaunlichen Stärke der Jihadisten waren die Aktivitäten mehrerer charismatischer Prediger, die alle Teilströmungen des Jihadismus abdeckten. Sie machten Wien schon in den frühen 2000er-Jahren zu einem Zentrum dschihadistischer Radikalisierung, das weit nach Deutschland und teils auch auf den Balkan ausstrahlte. Der junge ägyptisch-österreichische Prediger Mohamed M., der es bis zum Chef des deutschen Kontingents beim IS brachte, war schon damals einer der Protagonisten. Ein anderer war der bosnische Serbe Mirsad O., der in Wien die mit Abstand meisten jungen Österreicher für den Kampf in Syrien begeisterte. Hinzu kamen türkisch-, arabisch- und bosnischsprachige Prediger in allen Teilen des Landes.

Die Sicherheitsbehörden erkannten das Problem der religiösen Autoritäten früh und nahmen O. schon im November 2014 fest, viele seiner Kollegen in Graz, Linz und Wien in den folgenden Jahren. Die Strafen für die Prediger und ihre Gefolgsleute waren oft deutlich höher als in vielen Nachbarländern, O. beispielsweise wurde zu erstaunlichen 20 Jahren Haft verurteilt. Diese und andere Prozesse sorgten dafür, dass der Druck auf die jihadistische Szene hoch blieb. Die Zerschlagung der Strukturen in den wichtigsten Moscheevereinen in Wien, Graz und Linz trug dazu bei, dass die jihadistische Szene alte Treffpunkte aufgab und sich konspirativer verhielt, sodass eine Überwachung durch die Sicherheitsbehörden so deutlich schwieriger wurde als in den Vorjahren. Möglicherweise ließ das auch den Attentäter von Wien als nach außen hin weniger gefährlich scheinen, als er wirklich war. Dies sollte im Hinterkopf behalten, wer jetzt die Arbeit des BVT kritisiert, denn das Scheitern im aktuellen Fall könnte den Erfolgen in der Vergangenheit geschuldet sein.

Untätige Politik

Hinzu kommt, dass die Schwächen der österreichischen Sicherheitsbehörden auch der Untätigkeit der Politik geschuldet sind. Es gibt weiter hohe Hürden für die Überwachung von Telekommunikation, für die Observation von Verdächtigen fehlen die Ressourcen, und V-Leute können auch erst seit wenigen Jahren eingesetzt werden. In Österreich (ebenso wie in Deutschland) ist die Angst vor starken Sicherheitsbehörden offenbar immer noch größer als die vor Terroristen jeglicher Couleur. Es ist dringend geboten, umzuschwenken und die Sicherheitsbehörden mit den Kompetenzen, der Technik und dem Personal auszustatten, die für eine erfolgreiche Terrorismusbekämpfung im 21. Jahrhundert notwendig sind.

Daran schließt sich die Frage an, wie mit der offenkundig weiten Verbreitung von islamistischem Gedankengut umzugehen ist. Die rasche Folge der Anschläge in Frankreich, Deutschland und Österreich zeigt, dass im jihadistischen Milieu große Unruhe herrscht, die durch die erneute Karikaturen-Debatte ausgelöst worden sein könnte. Die Ereignisse – wie auch die Vorwürfe des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der die "Islamophobie" in Frankreich beklagte, statt den Mord an Samuel Paty zu verurteilen – sind auch Beleg, dass die Idee eines großen Kampfes der Zivilisationen wie sie vom Islamischen Staat und al-Kaida propagiert wird, auch über das jihadistische Spektrum hinaus weitverbreitet ist. In nächster Zeit wird es darum gehen, die Ideologie und ihre Verbreitung zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass Islamisten ihr Gedankengut in unseren Gesellschaften nicht mehr ungehindert verbreiten können.

Die Ereignisse von Wien sind weitere Argumente für ein härteres Vorgehen, das auch den Handlungsspielraum der Muslimbrüder, verschiedener türkischer Organisationen und anderer angeblich moderater Islamisten stark einengt. (Guido Steinberg, 4.11.2020)