Im Gastkommentar spricht sich der Kulturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk für einen ruhigen und besonnenen Diskurs über Religion und Zivilgesellschaft aus. Der Dissens sollte dabei aber auch möglich sein.

Seit fast 20 Jahren leben wir mit dem Alltag des (islamischen) Terrors. Die Bilder seit 2001 ähneln einander verblüffend, in New York, London, Paris, Brüssel, Nizza, in Deutschland und nun auch in Wien. Für Tage wird die betroffene Gesellschaft von einer kleinen Anzahl gewaltentschlossener Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Zahlreiche Tote, darunter auch die jungen Täter, die oft erschreckend normal aussehen. Das Böse bedarf, List der Unvernunft, nicht automatisch "böser" Menschen.

Glaubhafte Empathie

Politiker beschwören die Solidarität mit den Opfern und bekunden, dass sich die demokratische Zivilisation nicht wird unterkriegen lassen. Das ist auch gut so. Gerade eine demokratische Kultur bedarf einer Würde, die nicht mit Pomp und Pathos zu verwechseln ist. Das kommt dann ins Spiel, wenn der Anschlag zum Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei hochstilisiert wird. Das hat die fatale und unbeabsichtigte Nebenwirkung, dass die Tat, ganz im Interesse der politischen Gewaltanbeter, größer erscheint, als sie ist. Sie ist im terroristischen Akt einkalkuliert.

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Eintrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Kondolenzbuch am Dienstag in der österreichischen Botschaft in Paris.
Foto: Reuters / Pool

Der französische Präsident Emmanuel Macron ist einer der Ersten gewesen, der schon am Abend Solidarität mit unserem Land bekundet hat. Das entsprang glaubhafter Empathie, enthielt aber auch den dezenten Hinweis darauf, dass die offizielle Politik und vor allem die Öffentlichkeit in Europa viel zu halbherzig auf die brutalen Attacken in Paris und Nizza reagiert haben. Wir haben nicht nur Angst vor dem Terror der Islamisten, wir fürchten uns vor der inszenierten Wut des politischen Islam.

Recht auf Satire

Das war 2015, angesichts des blutigen Überfalls auf die Zeitschrift Charlie Hebdo und noch vor der Migrationsbewegung nach Europa, noch ganz anders, als jeder und jede die Facebook-Seite mit "Je suis Charlie" markierte. Man mag die Karikaturen mögen oder nicht, aber aus unserer Sicht ist das Recht auf Satire ebenso wenig verhandelbar wie die Gleichberechtigung, die Meinungsfreiheit und die Rechte von Minderheiten, das ein liberales Gemeinwesen zu dem macht, was es ist. Freiheit, ist stets die des Anderen, eben auch muslimischer Menschen, Religionskritik ist ebenso ein Recht wie jenes auf Ausübung von Religion, sofern diese im Einklang mit unseren demokratischen Werten steht.

Heute wird, wie die junge Journalistin Nada El-Azar in der Zeitschrift Biber anmerkt, jedwede Kritik am Islam potenziell als islamophob oder gar rassistisch gebrandmarkt. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass ein religiöses Segment, das längst ein Teil des Landes geworden ist, den Islam in Verruf bringt. Das Unbehagen daran ist nachvollziehbar, es sollte uns aber nicht davon abhalten, in ein Streitgespräch mit dem Islam einzutreten, in dem auch Dissens möglich ist.

Unheilvolle Rolle

Gewiss, die Mehrheit gläubiger Muslime lehnt den Terror, der mehr ein nihilistischer denn ein frommer Akt ist, entschieden ab. Sie sind aber für den zur Phrase mutierten Vorwurf, sie würden in den westlichen Gesellschaften marginalisiert und schikaniert, empfänglich. Dieser ist bestenfalls die halbe Wahrheit: Viele möchten zur Bewahrung ihrer Identität selbst am Rand einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft stehen. Mit dieser Befindlichkeit operiert der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, ein zorniger Mephisto der Sonderklasse, geschickt. Damit avanciert er freilich zum geistigen Mittäter der Ereignisse zu Wien, stachelt er doch türkische und die islamischen Minderheiten im Ausland zu aggressiven Reaktionen an. Wir sollten dieses Lamento islamistischer Politiker ebenso zurückweisen wie ihre Versuche, mit dem argumentativen Irrwisch der Blasphemie unsere Meinungsfreiheit zu zensieren, so wie diese es zu Hause tun.

Wie Nada El-Azar aus eigener Erfahrung beschreibt, ist die autoritäre Einschüchterung oft junger Menschen, die sich auf den Weg in die Mitte der liberalen Gesellschaft machen, kennzeichnend für das islamische Milieu nicht nur in Frankreich. Der Film der belgischen Regisseure Jan Pierre und Luc Dardenne Le jeune Ahmed, jüngst bei der Viennale zu sehen, zeigt, welche unheilvolle Rolle das fundamentalistische Milieu bei der Radikalisierung junger, durchaus wohlbehüteter, sozial nicht stigmatisierter Menschen spielt; alle Versuche der Öffnung zur liberalen Gesellschaft des Landes, in dem sie in Sicherheit leben, werden wütend als Verrat bekämpft.

Ruhige, besonnene Debatte

Weil der Islam seinem eigenen Selbstverständnis nach eine politische Gemeinschaftsreligion ist, müssen wir ruhig und besonnen über Religion und Zivilgesellschaft diskutieren. Dabei müssen die Politik wie die öffentliche Diskussion jene Segmente stärken, die wie auch wir ein säkulares Verhältnis zur Religion pflegen und jene liberalen Muslime unterstützen, für die unsere gelebte Verfassung und nicht die Scharia der Leitfaden ihres Handelns und Denkens ist. Gegen eine Minorität, die gleichsam die ökologische Nische für die Gewalt der letzten zwanzig Jahre bildet, müssen sich unsere Gesellschaften aus Selbsterhaltung zur Wehr setzen, auch wenn sie dabei zeitweilig Beifall von der falschen Seite erhalten.

Unsere vornehme Zurückhaltung, bestimmte Erscheinungsformen des Islam so selbstverständlich zu hinterfragen wie die anderer Religionen, hat den jungen Attentäter, einen gebürtigen Wiener, nicht davon abgehalten, sein Missvergnügen an einer Gesellschaft, in der es Vergnügen, Eigenständigkeit und Freiheit nicht nur für Religion, sondern auch von ihr gibt, mit brutaler Gewalt zu dokumentieren. (Wolfgang Müller-Funk, 4.11.2020)