Österreich war nie eine Insel der Seligen – auch nicht, was die Gefahr des islamistischen Terrors anbelangt. Am Montagabend hat ein Täter, der sich auf den "Islamischen Staat" berief, zugeschlagen und damit demonstriert, dass die Terrororganisation noch immer mobilisieren kann. Auch wenn die Tat nicht konkret von oben befohlen worden sein mag: Die Aufforderung der IS-Führung an ihre Anhänger, zuzuschlagen, wenn immer es ihnen möglich ist, gilt und wirkt noch immer. Es war immer möglich, dass so etwas bei uns geschieht, und nun ist es geschehen, nachdem Österreich jahrelang eher ein Rück- und Durchzugsort war.

Der IS, der im Jahr 2019 das letzte von ihm gehaltene Territorium und seinen "Kalifen" verlor, ist noch immer ein Referenzpunkt für Jihadisten. Die Eskalation zwischen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und beleidigten Muslimen in aller Welt – die damit begann, dass ein französischer Lehrer von einem Fanatiker enthauptet wurde, das soll man nie vergessen – kann ihnen nur recht kommen. Je verheerender das Bild "des Islam" in der Öffentlichkeit ist, je gespaltener die westlichen Gesellschaften sind, je marginalisierter sich gewisse Gruppen vorkommen, desto größer wird der Pool, in dem Extremisten fischen können.

Polizisten in der Wiener Innenstadt nach dem Terroranschlag am Montag.
Foto: EPA/CHRISTIAN BRUNA

Die Attraktion des IS ist nach dessen Niederlage im Nahen Osten zwar schwächer als früher, aber nicht völlig geschwunden. Der Attentäter von Wien hatte an das Projekt des "Islamischen Staats" geglaubt, er wollte nach Syrien reisen, scheiterte, wurde in Österreich bestraft – aber nicht geläutert. Er hat nur auf seinen Moment gewartet.

Terroristische Inspiration

Der inhaltliche Zusammenhang mit Frankreich liegt wohl auf der Hand. Kein anderes Thema als die vermeintliche Beleidigung des Propheten Mohammed ist so gut dazu geeignet, einen Fanatiker vergessen zu lassen, dass der IS seine Versprechen nie eingelöst und viele junge Menschen, die ihm gefolgt sind, in die Katastrophe geführt hat. Solange im Namen des IS gemordet wird – der Mörder würde sagen: der Prophet gerächt wird –, gibt es ihn noch.

Wenn es sich um eine größere Operation mit mehreren Tätern gehandelt hätte – wie man Montagabend gedacht hat –, dann wäre möglich, dass Wien und Österreich auch bewusst aus politischen Gründen als Ziel ausgewählt worden sein könnten. Die neue türkise Kanzlerpartei positioniert sich viel deutlicher islamkritisch und auch israelfreundlich als frühere Regierungsparteien. Das wird in der islamischen – und in der islamistischen – Welt wahrgenommen.

Aber bei einem Einzeltäter, wie es der Attentäter von Wien offenbar doch war, spielt das wohl keine Rolle. Er agiert, wo er sich gerade aufhält. Das bedeutet auch, dass es andere geben kann. An den Geschehnissen in Frankreich wurde wieder einmal deutlich, dass es sehr wohl etwas wie eine terroristische Inspiration gibt. Wir haben immer schon mit dieser Gefahr gelebt. Im Unterschied zu früher sind wir uns nun dessen bewusst geworden.(Gudrun Harrer, 3.11.2020)