Der Schwedenplatz ist ein Konstrukt. Er ist eine U-Bahn-Station, Umsteigen von der U1 in die U4 oder umgekehrt. Der Schwedenplatz ist tatsächlich eher die Idee einer Örtlichkeit als ein ordentlich sortierter Platz mit Zentrum und Rand, wie man sich einen Platz gemeinhin vorstellt. Es wirkt, als hätte jemand mit Kugelschreiber einen Kringel um ein größeres Kraut-und-Rüben-Häufchen gemacht und es "Platz" benannt, damit alles seine Ordnung hat – topografisch ist er ein heilloses Flickwerk von Örtlichkeiten mit unterschiedlichen Aufgaben.

Er ist nicht schön, der Schwedenplatz, aber durch und durch großstädtisch. Wofür ist er sonst bekannt? Für betrunkene Teenager. Aber auch das ist nur ein Teil seiner Wahrheit. Benannt ist er wie die Schwedenbrücke, die hier die Verbindung Richtung Zweiten Bezirk schlägt, nach der schwedischen Kinderhilfe nach dem Ersten Weltkrieg.

Vorbei brausen die Autos auf den vielen Spuren des Franz-Josef-Kais, die ihn trennen vom Donaukanal und seinen auch nicht mehr taufrischen Szene-Attitüden.

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Der Schwedenplatz ist ein Konstrukt, in all seiner Gleichzeitigkeit. Bis diese Woche. Dann wurde es laut. Und dann still.
Foto: Karl Schöndorfer / picturedesk.com

Der Schwedenplatz ist der McDonalds an der Rotenturmstraße, bei dem aufgeregte junge Leute anstehen, morgens genauso wie spät. Der Schwedenplatz ist bei großräumiger Auslegung auch noch das Schweden-Espresso mit der Gratis-Jukebox, wenn man mutig oder betrunken genug ist, es zu betreten. Der Schwedenplatz ist Dürüm mit alles und scharf, er ist das Motto am Fluss, elegant und manchmal wichtig, mit schickem Donaukanalblick und Schiffshabitus. Ein bisschen ist der Schwedenplatz auch noch der Ringturm, zumindest als Blickachse, wenn er nachts leuchtet.

Der Schwedenplatz ist das altmodische Geschäft mit den guten Schirmen (und denen aus Spitze und mit Rüschen), die in Handschrift ausgepriesen werden, und er ist das mit guten Kugelschreibern und Füllfedern, "Papierhafen" heißt es, was lustig ist, weil, Donaukanal hin oder her, nach Hafen sieht hier nicht viel aus, auch wenn gelegentlich Schiffe hier ablegen.

Dosenbier und Italo-Chic

Der Schwedenplatz ist viele Orte, viele Tageszeiten, viele Zustände, viele Zeitalter. Er ist der Eissalon, sommers, wo auch spätnachts noch mit Kindern Eis gegessen wird, winters sind die Buchstaben schön verpackt, warten auf das nächste Jahr. Er ist das Frühstück vor oder im Castelletto, je nach Rauchgewohnheit. Er ist das Jazzland ums Eck. Er ist die BP-Tankstelle, die im Dunklen leuchtet. Er ist der Billa, vor dem die Obdachlosen wohnen und abends schlafen, weil es hier wärmer ist.

Er ist die Gemeindebauten, die hier stehen wie hohe Burgen mit ihrer Vielzahl an BewohnerInnen und sich doch dem Blick entziehen, weil der Bezirk hier zweistöckig wird um die Ruprechtskirche, vielleicht die älteste Kirche Wiens. Hier gibt es Stufen und dunkle Ecken. Der Schwedenplatz ist das räudige Ende vom mondänen Ersten Bezirk, dessen Luxusnimbus hier nicht spürbar ist, eingebettet in die Klammer des Hotel Capricorno, das aussieht wie aus italienischer Vergangenheit importiert, und dem inzwischen auch schon beinah stylischen Leopold-Figl-Hof, der elegant herumsteht wie ein Mittelding aus italienischem Wohnkomplex und Parkhaus.

Nachts sieht man, in welchen Wohnungen tatsächlich noch gewohnt wird und ob als WG oder als verwunschener Jahrhundertwendetraum. Beim Würstelstand gibt es Spritzer aus dem Glas und Stammgäste.

Rüschenschirme und handgeschriebene Preise im Schirmgeschäft Suchanek am Schwedenplatz.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Der Schwedenplatz erschließt sich nicht auf einen Blick, er hat seine Sackgassen ebenso wie die neue, beinah demokratisch unter den Verkehrsteilnehmenden aufgeteilte Rotenturmstraße. Und doch wird hier abends am Wochenende noch gach Gas gegeben, Motoren jaulen auf – auch wenn die Coolness bei der nächsten Ampel schon wieder aufhören muss und Passantinnen und Passanten Witze drüber machen, dass ihr Moped eindrucksvoller klingt. Er ist der Ort all jener Gegensätze, die zu einer Großstadt gehören.

Er ist erstaunlicherweise ein gar nicht so besoffener Ort, unter der Woche zumindest, auch wenn das Bermudaeck direkt anschließt. Nur morgens riecht er auch noch frischgeputzt nach der Vornacht, wie ein Beisl. Und er hat ein stilles, eigentliches Zentrum, das man beinah übersieht, wenn man es eilig hat: eine Reihe an Bänken in seiner Mitte, gleich bei der Straßenbahnhaltestelle, ein öffentlicher Ort, wo alle sein dürfen. In einer lauen Sommernacht ist hier alles voll – heuer eher zögerlich, aber doch. Hier wird spätnachts für die Matura gelernt, geht noch wer mit dem Hund, schaut jemand aufs Handy, hört Musik, mit oder ohne Dosenbier. Manche knutschen oder kommen gemeinsam mit dem Fahrrad von einem Ausflug, andere sitzen auf Distanz. Irgendjemand spricht mit seiner Oma, die nachts nicht mehr so gut schläft.

Irgendwann kommen die Drogensüchtigen, die einen ausgesucht höflich um einen Euro anschnorren oder eine Tschick. Außen herum kreisen Leute wie erschöpfte oder leicht aufgedrehte Vögel, orientierungslos, aber erleichtert, wie alle hier, dass sie wo sein können, wo sie nicht allein sind, aber sich auch mit niemandem unterhalten müssen über das Wirre in ihrem Kopf, leise vor sich hin murmelnd.

Flohmarkt und Teenie-Treff

In "Dicht", dem Roman von Stefanie Sargnagel, kommen diese Bankerln vor, ein paar Jahre früher, passenderweise werden sie "Wohnzimmer" genannt. Sie sind es heute noch. Mittwochfrüh ist hier der Flohmarkt der Wiener TierschützerInnen, manche StandlerInnen haben auch andere Agenden, "Alleinerziehende Mütter", andere füttern eben im Prater Babykatzen. Kleidung von Toten, signierte Erstausgaben, mittelschöne alte Postkarten, Ramsch, der für irgendwen mal etwas bedeutet hat. Ein Freddy-Quinn-Autogramm um zwei Euro, eine Pluhar-Tagebuch-Ausgabe, in der steht: "Heller ist beleidigt." Das Ivan-Rebroff-Weihnachtsalbum. Sehr gute frische Marmelade. Reste von früherem Wien.

Ein paar Häuser weiter ist die schöne Kunst am Bau beim Theater franzjosefskai21, "Küss den Pfennig" steht da, aber das ist eine andere Geschichte.

Was ist er noch, der Schwedenplatz? Er ist, wenn man nicht genau genug schaut, ein Beserlpark zwischen den Ausgängen der Tiefgarage mit Rasen und Bankerln. Der über Bodenniveau erhobene Rasen ist eine architektonische Abwesenheit, von der man wissen muss, um sie lesen zu können. Hier am Morzinplatz, wo abends herumgesessen, getrunken, gekifft und diskutiert wird, wo Ausweise hergezeigt werden müssen, wenn es zu laut ist oder zu Migrationshintergrund, war die Wiener Gestapo-Zentrale im ehemaligen Hotel Métropole. Ein Ort von Verhören unter Folter, von Suizidversuchen und Deportation. Am hinteren Eck beim Franz-Josefs-Kai, da wo einst der Bus zum Flughafen abfuhr – heuer ist alles irgendwie einst –, da ist das dazugehörige Denkmal und "mahnt", halt da, wo man es nicht sieht.

Das ist auch der Schwedenplatz, in all seiner Gleichzeitigkeit. Das war er bis letzte Woche. Dann wurde es laut. Und dann wurde es still. Und dann werden wieder Menschen auf Bankerln sitzen. Mit und ohne Dosenbier, da wo jetzt ein roter Punkt ist auf Google Maps, mit Ausrufezeichen. "Schüsse in Wien" steht da, als ob damit irgendeine Geschichte fertigerzählt wäre. Die vom Schwedenplatz ist es nicht. (Julia Pühringer, 5.11.2020)