Die Welt der "Vögel" (nach Aristophanes), wie sie Frank Castorf sieht – da darf auch Hitchcocks gleichnamiger Film nicht fehlen.

Walter Braunfels’ Vögel an der Bayerischen Staatsoper in München – und dann noch mit Frank Castorf als Regisseur und Ingo Metzmacher am Pult: Da hätte man normalerweise den roten Teppich ausgerollt und das große Tafelsilber rausgeholt. Knapp vor dem zweiten Lockdown in Deutschland wurde daraus allerdings eine Premiere mit 50 Zuschauern in einem somit gespenstisch leeren Haus.

Immerhin hält Intendant Nikolaus Bachler den Streaming-Notausgang offen. Es wäre ja besonders schade, wenn das Werk (nach dessen Uraufführung an diesem Haus 1920) quasi im stillen Quarantänekämmerlein ein zweites Mal "vergessen" würde. Wenn heute eine Braunfels-Oper auf die Bühne kommt, ist das ja auch eine Wiedergutmachung.

Bis 1933 hatten sich Die Vögel zwar auf vielen Bühnen niedergelassen. Danach sorgten die Nazis aber dafür, dass das Werk verschwindet. Auch jagten sie den Komponisten aus dem Rektorenamt der Kölner Musikhochschule. Nach dem Krieg wiederum war der Komponist leider nicht modern genug. Braunfels wirkte wie eine Art Neben-Richard-Strauss. Tragisch.

Dirigent Metzmacher zelebriert mit dem Bayerischen Staatsorchester diese Klangwolken, erweckt den Rausch des Spätromantischen und trägt die fabelhafte Sängercrew auf Händen. Er lässt es aber auch kriegerisch donnern. Man meint fast, ein wütender Zeus würde einen Aufstand gegen die Göttermacht bekämpfen.

Aufstand gegen Götter

In Braunfels’ nach Aristophanes selbst verfasstem Libretto verschlägt es Hoffegut (Charles Workman) und Ratefreund (Michael Nagy) ins Reich der gefiederten Wesen, in dem ein ehemaliger Mensch als König Wiedehopf (Günter Papendell) das Sagen hat. Die beiden Menschengäste des Wolkenkuckucksheims versuchen, die Vögel zum Aufstand gegen die Götter zu bewegen. Dank eines musikalisch überbordenden, göttlichen Machtwortes misslingt das aber gründlich (Wolfgang Koch spricht es als imposanter Prometheus aus).

Während Ratefreund – als gescheiterter Kriegstreiber – das ganze Abenteuer als Blödsinn zusammenfasst, bleibt Hoffegut die Erinnerung an seine Begegnung mit der betörend trällernden Caroline Wettergreen als Nachtigall. Zu all der entfesselten Opulenz der Stimmen und des Orchesters liefert die Bühnenästhetik Castorfs und seines Ausstatters Alexander Denic einen Kontrast, der die märchenhafte Geschichte in eine ganz eigene Fantasiewelt versetzt.

Die lebt von Assoziationen zur Wirklichkeit, also zu gemachten Erfahrungen und bekannten Bildern: Bei Denic wird daraus eines seiner opulent aufgetürmten und im Detail verkramten Drehbühnenkonstrukte mit Kabelmasten und Parabolantenne. Da ist aber auch eine Penthouseholzhütte in der Höhe.

Revueglanz

Und mit einer heruntergelassenen Leinwand für live gedrehte "Innenaufnahmen" gibt es auch Einblicke in eine allzu menschliche Liebesbegegnung von Mensch und Nachtigall. Natürlich fehlen auch ein Riesenbild von Alfred Hitchcock und Ausschnitte aus seinem Sechzigerjahre-Vögel-Thriller nicht. Wenn die beiden Menschen als Kriegstreiber die schwarze Uniform nebst Hakenkreuz anlegen, blitzt es zudem auch politisch auf.

Es bringt aber nicht viel. Auf der anderen Seite stellt Adrianna Braga Peretzki mit den Kostümen (vor allem der Vögel) jeden Revueglanz in den Schatten. Im Unterschied zu seiner Hamburger Notcollage molto agitatio Anfang September kann München aber einen "richtigen", wenn auch etwas ausgebremsten Castorf verbuchen. Zumindest haben sie ihn "im Kasten".

Man darf vermuten, dass der Beifall der 50 anwesenden Zuschauer repräsentativ war für jene Zustimmung, die eine solche Wiederbegegnung verdient bei einem vollen Haus erhalten hätte. Selbst wenn für Castorf wohl Gegenstimmen dabei gewesen wären. (Joachim Lange, 5.11.2020)