Ein Haftaufenthalt ist ein besonders fruchtbarer Nährboden für Radikalisierung, sagen Experten.

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Personen, die wegen terroristischer Aktivitäten in Haft sind, werden dort in der Regel nicht immer bleiben. Wie geht man mit ihnen um, um sie wieder gesellschaftsfähig zu machen? Große Hoffnungen werden in Deradikalisierungsmaßnahmen gesetzt, die schon während der Haft getroffen werden. Doch die können Lücken haben – das zeigt der aktuelle Fall des Attentäters von Wien, das zeigen aber auch ältere Fälle.

Das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) legte 2017 eine Untersuchung dazu vor. Festgehalten wird dort: Die Jihadisten, die in Österreichs Gefängnissen wegen einer einschlägigen Verurteilung einsitzen, sind eine "außerordentlich heterogene Gruppe." Die Autoren Veronika Hofinger und Thomas Schmidinger schreiben: "Das Spektrum reicht von jungen Menschen mit durch Propanganda geschürten (...) Auswanderungsfantasien (...) bis hin zu Personen, denen vorgeworfen wird, an mehrfachen Tötungen beteiligt gewesen zu sein. Erfolge hinsichtlich einer Deradikalisierung sind daher recht unterschiedlich und individuell zu bewerten."

Vernachlässigter Strafvollzug

Eine zentrale Rolle nimmt der Verein Derad ein – er wurde damit beauftragt, die Insassen zu betreuen. Auch seine Rolle wurde vom IRKS untersucht. Dabei wurde positiv festgehalten, dass die Argumente, die von Derad-Betreuern kommen, "für viele umso mehr zählen, weil sie von Muslimen kommen und mit dem Verweis auf den Koran begründet werden". Besonders bei marginalisierten Jugendlichen würde es besonders gut gelingen, das "jihadistsiche Narrativ infrage zu stellen." Ebenso wurde festgehalten, dass es Derad "offenbar unterschiedlich gut" gelinge, auf die jeweiligen Lebensgeschichten und Bedürfnisse der Insassen einzugehen. Manche Gespräche würden von Insassen als empathisch geschildert werden, andere als belehrend.

"Deradikalisierung ist grundsätzlich ein schwieriges Unterfangen. Besonders in der Haft, wo die Bedingungen dafür die denkbar schlechtesten sind", sagt Veronika Hofinger zum STANDARD. Der Strafvollzug werde generell vernachlässigt, es gebe viel zu wenig Ressourcen und viele Insassen mit psychischen Problemen. "Deradikalisierungsmaßnahmen bewirken deshalb auch keine Wunder." Es gebe aber keine generelle Alternative. "Wobei wir gerade mit jungen Frauen auch Gespräche geführt haben, die während der Haft besser erreichbar waren", schildert Hofinger. Bewusst sein solle man sich aber darüber, dass Einsperren alleine noch keine Veränderung bringe. "Fest steht auch, dass das Arbeiten an der Ideologie wichtig ist, aber nicht alles. Es braucht immer auch psychologische und sozialarbeiterische Begleitung."

In der Studie wurde 2017 noch festgehalten, dass es "mehr von der Kompetenz bräuchte, die Derad zur Verfügung stellt, um den wachsenden Bedarf bewältigen zu können". Der Verein sei mit seinen derzeitigen Strukturen nicht in der Lage, alle Personen, die laut eigener Einschätzung weiter betreut werden sollen, regelmäßig zu betreuen". Hofinger sieht auch heute "immer noch Bedarf, die Arbeit weiter zu professionalisieren und auch auszuweiten".

Mangelhafter Informationsfluss

Eine Einschätzung, die Derad-Obmann Moussa Al-Hassan Diaw nicht ganz teilt: Man habe in den letzten vier Jahren von zwei auf 13 Mitarbeiter aufgestockt, sagt er zum STANDARD. Für die Betreuung in den Justizanstalten gebe es ausreichend Ressourcen. Aber: "Wo es momentan noch fehlt, ist bei jenen, die aus der Haft entlassen werden und die wir zum Teil mitbetreuen sollen. Da wurde in der Vergangenheit von unserer Seite viel ehrenamtlich gemacht, weil die Betreuung zum Teil nicht bezahlt wurde."

Was die Studie des IRKS noch feststellte: Es gebe hinsichtlich der Einschätzungen der Insassen zum Teil "große Divergenzen" zwischen der Einschätzung von Derad, den Wahrnehmungen der Justizanstalten und jenen des Verfassungsschutzes. "Eine Anregung wäre, Fallkonferenzen einzuführen, wo alle Player zusammenkommen, um über die einzelnen Fälle zu diskutieren", sagt Hofinger dazu. Vonseiten des Strafvollzugs sei immer wieder zu hören, dass der Informationsfluss zum Verfassungsschutz oft einer Einbahnstraße gleiche.

Kein Einblick in Strafakten

Diaw betont, dass es zwischen Derad und den Landesämtern für Verfassungsschutz, besonders in Wien und Niederösterreich, "guten und regelmäßigen Austausch" gebe: "Dadurch wurden auch Straftaten verhindert." Auch Montagnacht habe man Hinweise zum Täter aus dem Klientenetzwerk direkt an das LVT weitergeleitet. Jedoch: "Seit 2018 gibt es mit dem BVT keinen institutionalisierten Austausch mehr", sagt Diaw.

Was die Einschätzung der Personen laut Diaw "schon beim Erstgespräch" erleichtern würde: Einblick in die Strafakten. Diesen hat Derad derzeit nur, wenn sie von Klienten freiwillig zur Verfügung gestellt werden: "Die Einschätzung und Überprüfung dauert sonst etwas länger."

Kaum Seelsorger verfügbar

In der Studie ist auch die Rede von muslimischer Gefängnisseelsorge – und davon, dass diese oft gewünscht werde, aber kaum verfügbar sei. Manche Jihadisten hätten sich sogar an die katholische Gefängnisseelsorge gewandt, weil die "aufgrund vorhandener Planstellen in der Lage war, einzelne Insassen zu betreuen", heißt es. Džemal Šibljaković ist Imam und nach eigenen Angaben der einzige hauptberufliche muslimische Gefängnisseelsorger in Österreich. Er ist für 550 Personen zuständig, seine Stelle wird von der Islamischen Glaubensgemeinschaft finanziert, sagt er. Der Großteil seiner Kollegen arbeite ehrenamtlich.

Der Vorteil seiner Arbeit sei, sagt Šibljaković, dass er auch mit Personen in Kontakt komme, die wegen Verstößen abseits des Terrorismus in Haft sitzen. Er betreut jene, die aktiv auf ihn zu gehen, der Erstkontakt müsse stets vom Häftling ausgehen, ein Teil seiner Arbeit ist auch die Deradikalisierung und Extremismusprävention. "Jeder Mensch ist anfällig für extremistische Narrative", sagt Šibljaković – und zwar ganz besonders in Haft. Perspektivenlosigkeit, Integrations- und Inklusionsschwierigkeiten in den Justizanstalten würden Agitatoren in die Hände spielen. Immerhin würden diese gezielt solche Personen suchen, um ihnen dann "sinnstiftende Arbeit" anzubieten.

Radikal zu werden ist kein linearer Prozess

"Wenn man zu seiner Tat steht, dann möchte man sie wiedergutmachen", sagt Šibljaković, und religiös sei gut argumentierbar, dass man seine Tat bei Gott wiedergutmachen könne. "Das ist das Narrativ, mit dem Leute geangelt werden", sagt Šibljaković. Für diese Narrative müsse man in der Extremismusprävention und Deradikalisierung Alternativen anbieten.

Die Vorstellung, dass jemand plötzlich deradikalisiert sei, sei jedoch falsch. "Radikalisierung ist kein linearer Prozess", sagt Šibljaković, "kein Schalter, den man abstellt", sondern vielmehr ein situationsabhängiges Phänomen. Eine Radikalisierung hätte nie nur eine Ursache, sondern viele: Da gehe es genauso um Religion wie um die persönliche Entwicklung oder um Diskriminierungserfahrungen. Daher könne Religion auch immer nur ein Teil der Lösung sein, wenn man Deradikalisierungsarbeit leiste.

Und ja, es gebe auch Häftlinge, bei denen er als Person nicht mehr helfen könne, wo er "nicht mehr der richtige Ansprechpartner" sei. Das sei dann, wenn eine theologische Argumentation nichts mehr bringe – das müsse man anerkennen und anderen Professionen den Vortritt lassen. Doch es gebe auch Erfolgsgeschichten. Nur würden diese selten gehört. (Vanessa Gaigg, Gabriele Scherndl, 4.11.2020)