Ausgerechnet unter der Führung eines Friedensnobelpreisträgers bahnt sich in Äthiopien ein Krieg an, der nach Auffassung von Fachleuten nicht nur den zweitbevölkerungsreichsten Staat des Kontinents, sondern die gesamte Region am Horn von Afrika in Brand zu setzen droht. Premierminister Abiy Ahmed, der im vergangenen Jahr mit der prestigeträchtigen Auszeichnung geehrt worden war, ordnete in der Nacht zum Mittwoch den Einmarsch äthiopischer Truppen in die aufständische Provinz Tigray an, nachdem die dortige Regionalregierung "auch die letzte rote Linie überschritten" und eine "militärische Konfrontation" unvermeidlich gemacht habe.

Aus der rund sechs Millionen Einwohner zählenden Provinz wurden am Mittwoch heftige Kämpfe gemeldet: Detaillierte Informationen sind allerdings kaum zu erhalten, da die Telefon- und Internetverbindungen in die im Norden Äthiopiens gelegene Provinz abgeschaltet wurden. Abiy begründete den Einmarsch mit zwei angeblichen Überfällen tigrayischer Milizen auf Kasernen des äthiopischen Militärs – sowohl in der Provinzhauptstadt Mekele als auch in der Stadt Dansha. In deren Verlauf seien in der Nacht zum Dienstag "viele" Soldaten getötet und selbst schwere Waffen gestohlen worden, sagte Abiy in einer TV-Ansprache am frühen Mittwochmorgen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed schickt die Armee in die Provinz Tigray.
Foto: Reuters

"Außerordentliche Geduld"

Im Konflikt mit der aufständischen Provinz habe seine Regierung monatelang "außerordentliche Geduld" gezeigt, fügte der Premier hinzu: "Doch ein Krieg kann nicht nur mit dem guten Willen einer Seite vermieden werden." Der äthiopische Einmarsch sei "der schlimmste Ausgang der Spannungen zwischen Tigray und der Zentralregierung", meint Äthiopien-Kenner William Davison von der International Crisis Group (ICG): Er werde "Schockwellen und Flüchtlinge" in andere Staaten des Horns von Afrika und über das Mittelmeer senden. Werde der Konflikt nicht schleunigst eingedämmt, könne er "zur größten und schädlichsten Entwicklung des Kontinents in diesem Jahrzehnt" werden, warnte der britische Afrika-Experte Nic Cheeseman.

Die Konfrontation zwischen Addis Abeba und Mekele bahnt sich bereits seit Jahren an und spitzte sich in den vergangenen Wochen dramatisch zu. Die von der tigrayischen Befreiungsbewegung TPLF geführte Provinzregierung hatte sich vehement gegen die Verschiebung der äthiopischen Wahlen wegen der Corona-Pandemie gewandt und veranstaltete Anfang September gegen den Willen der Zentralregierung selbst eine Abstimmung. Aus ihr soll die TPLF mit 98,2 Prozent der Stimmen als Sieger hervorgegangen sein. Der Urnengang wurde von Addis Abeba allerdings nicht anerkannt: Außerdem ließ die Zentralregierung ihre finanziellen Zuwendungen nicht mehr der Provinzregierung in Mekele, sondern lokalen Administrationen zukommen.

Dutzende Tote

Im Gegenzug erkannte TPLF-Chef Debrestion Gebremichael die Abiy-Regierung nicht mehr an. Am vergangenen Sonntag kam es in der Oromo-Provinz zu einem Massaker in einer Schule, bei dem 54 Menschen getötet wurden. Abiy bezichtigte die EPLF, für das Blutbad verantwortlich zu sein, und brachte Einheiten der Streitkräfte auf den Weg in Richtung Norden. Der Einmarsch in die Tigray-Provinz sei seit langem geplant gewesen, meinen Kritiker Abiys.

Obwohl in der Provinz nur rund sechs Prozent der Äthiopier leben, spielten die Tigray nach der Befreiung des Landes vom "Roten Terror" Mengistus 1991 eine dominierende Rolle, sowohl in den Streitkräften wie der Zentralregierung. 21 Jahre lang führte der Tigray Meles Zenawi das Land: Er führte auch den Föderalismus ein, um auf diese Weise der Minderheit der Tigray Schutz zu bieten. Inzwischen ist der Föderalismus jedoch heftig umstritten.

Integration

Vor allem das Mehrheitsvolk der Oromo sieht sich seit langem von einer angemessenen Beteiligung an der Macht ausgeschlossen: Nach Meles' Tod erschütterten jahrelang Proteste der Oromer das Land. Schließlich machte die regierende EPRDF den Oromo Abiy Ahmed zum Regierungschef, der sich alsbald an eine radikale Reform des Staates machte. Abiy rückte die Integration der Volksgruppen in den Mittelpunkt seiner Politik: Er wandelte auch die bisher nach Volksgruppen gegliederte EPRDF in eine einheitlich Organisation, die "Wohlstandspartei", um.

Neben der Bevölkerung von Tigray stehen diesem Trend auch nationalistische Kreise innerhalb der Oromo und Amhara feindlich gegenüber. Fachleute sehen Abiys Einmarsch in Tigray als dessen Versuch, den ethnischen Zentrifugalkräften des Landes mit militärischen Mitteln zu begegnen. Weil auch nationalistische Oromo und Amhara den Absetzbestrebungen der Tigray folgen könnten, droht sich Abiys Feldzug zu einem Flächenbrand ausweiten. Besorgt schauen Kenner der Region auch auf das Nachbarland Eritrea, dessen Präsident Isaias Afwerki den Tigray aus historischen Gründen feindlich gegenübersteht. Auch er könne Truppen nach Tigray entsenden, wird befürchtet: Auf diese Weise könne der Konflikts immer weiter eskalieren. (Johannes Dieterich, 4.11.2020)