Die Aufklärung des Terroranschlags vom Montag ist noch im Gange. Gleichzeitig muss festgestellt werden, ob die Tat hätte verhindert werden können.

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Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass der Terroranschlag in Wien hätte verhindert werden können. Schon mehrere derzeit gültige Bestimmungen hätten gereicht, um den Attentäter nach seiner Freilassung wieder in Haft zu nehmen – und zwar nicht trotz, sondern zum Teil wegen der vorzeitigen Entlassung aus der Justizanstalt. Denn dadurch sei der spätere Täter noch drei Jahre lang unter Beobachtung gestanden.

Im Justizministerium will man keine Spekulationen über den aktuellen Fall nach dem Schema Was-wäre-wenn anstellen. Grundsätzlich bestehe aber bei vorzeitig entlassenen Tätern die Möglichkeit, dass sie den Rest ihrer Haft absitzen, wenn sie sich wieder strafbar machen. Um das festzustellen, muss der Verfassungsschutz Beobachtungen, "die den Verdacht einer strafbaren Handlung nahelegen", an die Staatsanwaltschaft weiterleiten, sagt eine Sprecherin des Ministeriums zum STANDARD.

Die Staatsanwaltschaft könne dann die Untersuchungshaft beantragen – und da sei eine Straftat in der Vergangenheit ein wesentlicher Faktor. Neben dem Absitzen der Reststrafe droht dann freilich auch ein weiteres Verfahren wegen der neuen Straftat.

An der Kommunikation gescheitert

Der versuchte Ankauf von Munition wäre an sich bereits eine solche strafbare Handlung, sagt der Verfassungsjurist Bernd-Christian Funk, "außerdem spricht ja alles dafür, dass er sein Terrornetzwerk aufrechterhalten hat". All das hätte ausgereicht, "um die bedingte Verurteilung wiederaufzunehmen, ihn wieder einzusperren oder ihn erneut zu verfolgen".

Gescheitert ist all das also nicht an der gesetzlichen Lage, sondern an Kommunikationsschwierigkeiten, wie es Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) formulierte.

Präventivhaft möglich, aber heikel

Dennoch kocht nun eine alte Forderung wieder hoch: die nach einer Präventivhaft. So sprach schon am Tag nach der Terrornacht der Terrorismusforscher Peter Neumann vom Vorbild Niederlande, das bei akuter Gewaltgefahr eine Sicherheitsverwahrung vorsehe. Auch Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) sagte am Donnerstag, "die Möglichkeit der Sicherungshaft ist in 15 europäischen Ländern bereits geübte Praxis. Dazu zählen etwa Belgien, Niederlande oder Luxemburg."

Einen präventiven Freiheitsentzug im Gesetz zu verankern wäre möglich, aber heikel, sagt Verfassungsrechtler Funk dazu. Man müsste das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit novellieren, ein Bundesverfassungsgesetz, das daher mit Zweidrittelmehrheit geändert werden könnte.

In Paragraf 2 heißt es dort, die Freiheit könne – um eine Straftat zu verhindern – einem Menschen dann nur entzogen werden, wenn dieser bereits einer bestimmten Straftat verdächtig ist. "Das ist der springende Punkt", sagt Funk, "ich brauche den Tatverdacht, dass er bereits eine Straftat begangen hat, und der Tatverdacht ist nur unzureichend als Präventivkonzept geeignet".

Präzise und verhältnismäßig

Eine Änderung wäre nach Funks Rechtsansicht auch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar, denn dort heißt es in Artikel 5, das Grundrecht auf Freiheit könne dann entzogen werden, wenn es gute Gründe zu der Annahme gibt, dass eine Person an einer strafbaren Handlung gehindert werden muss.

Juristisch machbar wäre ein zusätzlicher verfassungskonformer Hafttatbestand – so steht es im Regierungsprogramm – allemal. Funk merkt allerdings an, man müsste "ganz genau darauf achten, dass man die Voraussetzungen möglichst präzise definiert und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit bleibt".

"Alle Möglichkeiten, die Person zu überwachen"

Der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak warnt auch nach dem Terroranschlag von Wien davor, nun als überhastete Reaktion eine Sicherungshaft umsetzen zu wollen. Der gültige Rechtsrahmen hätte auch aus Nowaks Sicht vollkommen ausgereicht. Die Sicherungshaft trifft auf den aktuellen Fall gar nicht zu.

Der Attentäter wurde wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt und zwar früher entlassen sowie in ein Deradikalisierungsprogramm gesteckt, aber: "Man hatte alle Möglichkeiten, die Person zu überwachen", sagt Nowak. Mit dem versuchten illegalen Munitionskauf ohne Waffenschein durch K. F. in der Slowakei hatte man überdies massive Hinweise, dass der spätere Attentäter wieder in die Richtung einer strafbaren Handlung gehen könnte.

Präventivhaft hätte keine Anwendung gefunden

Diese bloße Möglichkeit hätte ausgereicht, um ihn für 48 Stunden in eine Verwahrungshaft und – wenn sich die Anzeichen für das Gericht verdeutlichen – auch in eine Untersuchungshaft zu nehmen. "Bei jemandem, der bereits Straftäter ist, ist das noch leichter", sagt Nowak. "Noch dazu, wenn er mit anderen IS-Anhängern in Deutschland und der Schweiz in Kontakt war – diese Person kann ich nach geltendem Recht festnehmen."

Die Sicherungshaft wäre gar nicht erst zum Zug gekommen. Diese soll über jemanden verhängt werden, der keinerlei strafbare Handlung begangen hat, aber nach gewissen Indizien als gefährlich eingestuft werden könnte. Doch über den Attentäter wussten die Behörden reichlich – oder hätten es besser wissen müssen.

"Wer suchet, der findet"

Genau deshalb versteht auch der Völkerrechtler Ralph Janik die wieder aufkeimenden Debatte über eine Sicherungshaft als politische Nebelgranate. "Abgesehen davon, dass die Sicherungshaft hier nicht wirkt, was hätten wir davon, wenn wir schon unsere bestehenden Instrumente nicht nutzen", fragt er. Der Tipp der slowakischen Behörden verhallte offenbar.

Man hätte sicherlich etwas gefunden, um K. F. wegzusperren: Vom illegalen Waffenbesitz bis zur womöglich neuerlichen Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung. "Bei Leuten, die Dreck am stecken haben, gilt das Motto, wer suchet, der findet", sagt Janik. "Es ist nicht so, als hätte man nichts machen können."

Richter und Staatsanwälte wehren sich gegen Kanzler-Darstellung

Am Donnerstag wandten sich Vereinigungen der Richtern und Staatsanwälten mit einer gemeinsamen Aussendung an Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Dieser sagte kürzlich in einer Pressekonferenz, dass das Attentat am 2. November nicht stattgefunden hätte, wenn der Täter nicht vorzeitig aus der Haft entlassen worden wäre. Das wollte die Justiz so nicht sehen lassen.

"Der Attentäter vom 2.11.2020 wäre ohne bedingte Haftentlassung sieben Monate später im Juli 2020 entlassen worden – ohne weitere Betreuung und gerichtliche Kontrolle", heißt es in der Aussendung. "Er hätte diese schreckliche Tat im November genauso begehen können, wenn er die gesamte verhängte Haftstrafe 'abgesessen' hätte". Die Variante der bedingten Entlassung unter Auflagen biete zumindest die Möglichkeit, auf den Täter weiter einzuwirken, ihn möglicherweise zu deradikalisieren und weitere Straftaten zu verhindern. "Leider waren in diesem Fall alle Maßnahmen vergeblich." Eine vorzeitige Entlassung sei eine Momentaufnahme und eine Zukunftsprognose, die nach "bestem Wissen und Gewissen" auf Grundlage von Gesetzen durch ein unabhängiges Gericht nach Anhörung von Experten erfolge, wird in der Aussendung betont.

Der Umgang mit Jihadisten nach der Haftentlassung Verbesserungen für Deradikalisierungsprogramme müssten nach dem Attentat "selbstverständlich" diskutiert werden. Aber auch die Kommunikation zwischen den Behörden müsse evaluiert werden. "Alle Institutionen sind nun dazu aufgerufen, Lösungen für die Zukunft zu finden, damit weitere Attentate mit rechtsstaatlichen Mitteln möglichst verhindert werden können", schließt das Schreiben. (Sebastian Fellner, Jan Michael Marchart, Gabriele Scherndl, 5.11.2020)