In seinem Gastkommentar geht Politikwissenschafter Thomas Schmidinger auf Versäumnisse der Behörden ein und warum man aus etwaigen Fehlern lernen sollte. Lesen Sie dazu auch die Gastkommentare von Thomas Riegler und Erhard Busek.

Der brutale Terroranschlag, der Wien Montagnacht erschüttert hat, war leider keine Überraschung. Wer geglaubt hat, Österreich wäre eine "Insel der Seligen", hat schon lange in einer Traumwelt gelebt. Seit Jahren haben wir auch in Österreich – und nicht nur in Wien – eine Szene von Sympathisanten mit jihadistischen Gruppen, nicht nur, aber auch mit dem sogenannten "Islamischen Staat" (IS). Auch wenn die Euphorie der IS-Fans aus der Zeit des Höhepunkts des Staatsprojekts IS in Syrien und im Irak von 2014/2015 mittlerweile verflogen ist und die Szene aufgrund des behördlichen Verfolgungsdrucks weniger sichtbar wurde, bedeutet das nicht, dass sie verschwunden ist. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es jemandem aus diesen Kreisen gelingen würde, nicht vorher aufzufallen.

Im Fokus eines U-Ausschusses und nun erneut unter Kritik: das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung.
Foto: Apa/Punz

Dass dies ausgerechnet jemandem gelungen ist, der bereits wegen § 278b, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, verurteilt wurde und nach seiner bedingten vorzeitigen Entlassung weiter von der Bewährungshilfe Neustart und dem Verein Derad betreut wurde, ist allerdings erstaunlich. Dass der Täter offenbar noch nicht einmal aufgefallen ist, als er versuchte, in der Slowakei Munition zu kaufen, wirft ernsthafte Fragen über behördliches Versagen auf.

Erstaunlich ist dabei weniger die vorzeitige Entlassung des Täters, denn nur diese ermöglicht es, Bewährungsauflagen zu erteilen – wer seine Haftstrafe voll abgesessen hat, bekommt auch keine Bewährungsauflagen –, sondern dass es offenbar eine völlige Fehleinschätzung hinsichtlich der Gefährlichkeit des Täters gab und dieser auch dann nicht weiter beobachtet wurde, als die slowakische Polizei im Sommer die österreichischen Behörden darüber informiert hatte, dass der spätere Terrorist in der Slowakei versucht hatte, Munition zu kaufen.

Völlige Sicherheit gibt es nicht

Eine völlige Sicherheit kann es bei keinen Resozialisierungsversuchen ehemaliger Straftäter geben. Auch bei Sexualstraftätern oder Räubern gibt es immer wieder Einzelfälle, bei denen die besten Resozialisierungsmaßnahmen versagen. Aus dem Einzelfall kann also nicht geschlossen werden, dass Resozialisierungs- und Deradikalisierungsmaßnahmen generell nichts nützen, wie dies Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) angedeutet hat. Und auch wenn der Täter seine gesamte Haftstrafe abgesessen hätte, wäre er rechtzeitig aus der Haft entlassen worden, um den Terrorangriff vom Montag durchführen zu können.

Mit einfachen Schuldzuweisungen kommen wir in diesem Fall wohl nicht weiter, allerdings wäre es angebracht, in einem runden Tisch aller mit dem Fall befassten Institutionen der Frage nachzugehen, ob hier Fehler geschehen sind beziehungsweise was daraus für die Zukunft gelernt werden kann und wo Verbesserungsmöglichkeiten in der Betreuung in und nach der Haft möglich und nötig sind. Denn eines ist klar: Die naive Vorstellung, dass Straftäter durch einen Gefängnisaufenthalt zu besseren Menschen werden, entspricht nur in seltensten Fällen der Realität.

Radikalisierung in Haft

In einer noch unter Justizminister Wolfgang Brandstetter in Auftrag gegebenen Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie konnten Veronika Hofinger und ich im November 2017 feststellen, dass damals zwar die meisten Jugendlichen nicht in Haft radikalisiert wurden und verglichen etwa mit Frankreich nur wenige vor ihrer Haftstrafe wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung eine frühere Haftstrafe wegen anderer krimineller Delikte hatten. Die meisten österreichischen Jihadisten waren also nicht in Haft, sondern anderswo radikalisiert worden. Trotzdem gab es auch hierzulande Fälle jihadistischer Radikalisierung in Haft. Unter Minister Brandstetter wurden erste Maßnahmen in die Wege geleitet, um hier gegenzusteuern.

Danach kam allerdings Türkis-Blau mit politischen Umfärbungen und Konflikten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) kam dabei selbst in die Schusslinie, was in eine von einem FPÖ-Gemeinderat geführten Hausdurchsuchung der Einsatzgruppe zur Bekämpfung der Straßenkriminalität im Auftrag der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in den Räumlichkeiten des BVT mündete, bei der nachweislich auch sensible Daten beschlagnahmt wurden. International wurde das BVT in der Folge zunehmend von Informationen befreundeter Dienste ausgeschlossen. Aber auch im Justizministerium kam es zu Konflikten um den Vorwurf des Amtsmissbrauchs gegen den mächtigen Sektionschef Christian Pilnacek. Sowohl Reformen im Strafvollzug als auch die Beobachtung der jihadistischen Szene durch das BVT scheinen damit ins Stocken gekommen zu sein.

Nichts zu bekritteln

Am Einsatz der Polizei von Montagnacht gibt es nichts zu bekritteln. Nur neun Minuten hatte der Terrorist Zeit, Menschen zu erschießen. Die vier Menschen, die er in dieser Zeit getötet hatte, könnten allerdings möglicherweise noch am Leben sein, wenn beim Versuch des späteren Terroristen, in der Slowakei Munition zu kaufen, bei irgendjemandem die Alarmglocken geläutet hätten.

Auch wenn wir weiterhin mit der Gefahr terroristischer Anschläge leben werden müssen, ist es doch auch die Aufgabe von Polizeibehörden, diese Gefahr so gut wie möglich zu minimieren. Dazu ist es nötig, in diesem Fall Manöverkritik zu üben und zu untersuchen, warum der spätere Terrorist zwar aufgefallen ist, allerdings bis zur Tat nichts unternommen wurde. Hier haben die Sicherheitsbehörden versagt, und gegen ein solches Versagen helfen auch die nun vielfach geforderten schärfere Gesetze nichts. Stattdessen gilt es aufzuklären, warum die bestehenden Möglichkeiten nicht genutzt wurden und deshalb vier Menschen sterben mussten. (Thomas Schmidinger, 6.11.2020)