Was heute als Isles of Scilly aus dem Atlantik vor der Südwestspitze Großbritanniens ragt, war vor Jahrtausenden, als der Meeresspiegel deutlich tiefer lag, eine einzelne große Insel.
Foto: Historic England Archive

Der stete Anstieg des Meeresspiegels gilt als eine der dramatischsten Folgen der globalen Klimaerwärmung. Wie stark dieser in den kommenden Jahrzehnten ausfallen wird, hängt von zahlreichen Faktoren ab, der Erfolg der Menschheit bei der Reduktion der Treibhausgasemissionen zählt hier zweifellos zu den bedeutendsten. Nach den vom Weltklimarat (IPCC) veröffentlichten Zahlen liegt die Schwankungsbreite zwischen 0,6 und 1,3 Metern bis zum Ende des Jahrhunderts. Eine Abschätzung durch rund hundert Experten geht auf Grundlage aktueller Daten davon aus, dass der globale mittlere Anstieg des Meeresspiegels bis zum Jahr 2100 etwa einen Meter betragen wird, sofern es uns nicht gelingt, dem Ausstoß der Treibhausgase Einhalt zu gebieten.

Bedenkliche Entwicklungen

Noch klarer wird das Bild, wenn man sich die aktuelle und jüngere Entwicklung genauer ansieht: Laut dem IPCC-Report von 2014 stieg der Meeresspiegel zwischen 1901 und 2010 um durchschnittlich 1,7 Millimeter pro Jahr. Für den Zeitraum 1993 bis 2010 waren es dagegen im Schnitt 3,2 Millimeter pro Jahr. Für 2018 kamen die Experten bereits auf 3,6 Millimeter pro Jahr. Berücksichtigt man diese Beschleunigung und neuere Erkenntnisse, dann dürften die IPCC-Prognosen im 5. Sachstandsbericht deutlich zu konservativ kalkuliert sein. So warnten 2015 etwa Klimatologen um den US-Amerikaner James E. Hansen vor zunehmend exponentiell verlaufenden Dynamiken, die schon für das Jahr 2050 einen Meeresspiegelanstieg um mehr als einen Meter erwarten lassen.

Prognose des IPCC über den Meeresspiegelanstieg und die tatsächlich beobachtete Entwicklung.
Grafik: CCRC

Schmilzt die Antarktis, kommen 60 Meter dazu

Geht das große Tauen ungebremst weiter, werden wir es in fernerer Zukunft noch mit ganz anderen Zahlen zu tun bekommen: Ein vollständiges Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes würde rein rechnerisch den Meeresspiegel um etwa 7,3 Meter anheben. Werden auch noch die gut 25 Millionen Kubikkilometer Eis der gesamten Antarktis zu Wasser, würde es sogar zu einer Erhöhung von 60 Metern kommen – mit einem solchen Schreckensszenario ist freilich erst in Jahrtausenden zu rechnen.

Es dürfte jedoch schon ein um einen Meter höherer Meeresspiegel ausreichen, um die teils dichtbesiedelten Küstenregionen der Erde nachhaltig zu verändern. Wie der IPCC-Sonderbericht über den Zustand der Meere und Eisvorkommen im vergangenen September vorrechnete, würden bei einer Erderwärmung um zwei Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter Gebiete überflutet, in denen heute noch 280 Millionen Menschen leben.

Rekonstruierter Anstieg

Die konkreten Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Küstenzonen und ihre Bewohner lassen sich im Detail allerdings kaum vorhersagen, wie eine aktuelle Studie nun darlegt: Ein Team um Robert Barnett von der University of Exeter hat dafür untersucht, was mit einer inselreichen Region im Atlantik geschah, als am Ende der letzten Kaltzeit der Meeresspiegel zu steigen begann. Für ihre Rekonstruktion nahmen die Wissenschafter das derzeitige Aussehen der Isles of Scilly vor der Südwestspitze Großbritanniens als Ausgangspunkt und zeichneten in der Zeit rückwärts die Veränderungen der Küstenlinien in Tausend-Jahre-Schritten nach. Dabei stellten sie unter anderem fest, dass die Isles of Scilly, die heute mehr als 140 Inseln umfassen, ursprünglich aus einer einzigen großen Insel hervorgegangen sind.

Bant's Carn, ein sogenanntes Entrance Grave aus der Bronzezeit auf St. Mary's, der Hauptinsel der Scilly-Inseln.
Foto: Cornwall Archaeological Unit, Cornwall Council

Die Veränderungen – sowohl was die Landfläche betrifft, aber auch die kulturellen Umbrüche der damaligen Bewohner – vollzogen sich damals mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und sehr häufig nicht im Einklang mit den ansteigenden Meerespegelständen. Die Wissenschafter sehen darin die Grundlagen, auf denen die zukünftigen Meeresspiegelveränderungen beurteilt werden müssen: "Wenn wir über den Anstieg der Meere nachdenken, müssen wir die Komplexität der beteiligten Systeme sowohl hinsichtlich der Geografie als auch der menschlichen Reaktionen berücksichtigen", sagt Barnett. "Die Geschwindigkeit, mit der Land verschwindet, hängt nicht allein vom Meeresanstieg ab. Sie spiegelt auch die spezifische lokale Geografie, Landschaftsformen und Geologie wider." Die Reaktionen der Menschen seien dabei wahrscheinlich gleichermaßen lokal unterschiedlich. Beispielsweise können Gemeinschaften gewichtige Gründe dafür haben, sich zu weigern, einen bedrohten Ort zu verlassen.

Schneller Untergang einer großen Insel

Insgesamt rund 12.000 Jahre blickten die Forscher für ihre im Fachjournal "Science Advances" veröffentlichte Studie in die Vergangenheit der Scilly-Inseln zurück. Um sich ein realistisches Bild von den Verhältnissen während der unterschiedlichen Zeitabschnitte zu machen, zogen sie Daten des Lyonesse-Projekts (2009 bis 2013) heran, einer Untersuchung der historischen Küsten- und Meeresumwelt der Scilly-Inseln, und ergänzten sie durch aktuelle Landschafts-, Vegetations- und Bevölkerungsrekonstruktionen, die aus Pollen- und Holzkohlendaten und archäologischen Artefakten erstellt wurden.

Luftaufnahme von überfluteten Steinmauern vor einer der Scilly-Inseln.
Foto: Historic England Archive

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass große Bereiche trockenen Landes zwischen 5.000 und 4.000 Jahren vor heute verhältnismäßig schnell unter dem Meeresspiegel verschwanden. Die damaligen Bewohner reagierten allerdings unerwartet: Anstatt ihre Heimat zu verlassen, schienen sie sich rasch an die neuen Gegebenheiten anzupassen. So deuten archäologische Funde etwa an, dass ab der Bronzezeit (ab 4.400 Jahren vor heute) auf dem Gebiet eine ständige, sogar wachsende Bevölkerung zu Hause war. Die Gründe dafür sind unklar. Eine Erklärung sehen die Forscher in dem Umstand, dass durch den Meeresanstieg neue flache Gezeitenzonen entstanden, die die Möglichkeiten zum Angeln, Sammeln von Schalentieren und Jagen von Wildgeflügel boten.

Ein Fußballfeld pro Jahr

Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass sich der schnelle Landverlust während einer Phase vollzog, als der Meeresspiegel eigentlich verhältnismäßig langsam anstieg. Offensichtlich dürften weite Teile der Ursprungsinsel zu diesem Zeitpunkt relativ flach gewesen sein. Das führte dazu, dass im Verlauf des dritten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung das Land mit einer Rate von 10.000 Quadratmetern pro Jahr verlorenging – dies entspricht den Dimensionen eines großen Fußballfeldes. Etwa die Hälfte dieser Fläche verwandelte sich jedoch in Gezeitenlebensräume, von denen die Küstengemeinden vermutlich profitiert haben.

Viele pazifische Inselstaaten haben bereits seit Jahren mit den Folgen des Meeresspiegelanstiegs zu kämpfen.
Foto: APA/AFP/GIFF JOHNSON

Rasanter Wandel

"Unsere Studie zeigt, dass ein rasanter Wandel von Küstenabschnitten auch bei einem geringen und langsamen Anstieg des Meeresspiegels von ein bis zwei Millimetern pro Jahr auftreten kann", sagt Barnett. "Die derzeitige durchschnittliche Geschwindigkeit von jährlich 3,6 Millimetern ist bereits weitaus höher, als es vor 5.000 bis 4.000 Jahren auf den Scilly-Inseln der Fall war – und doch war es damals zu schnellen und teilweise dramatischen Veränderungen der Küsten gekommen, aber auch zu einer unerwarteten Reaktion darauf vonseiten der Inselbevölkerung."

Die Wissenschafter schließen daraus, dass gesellschaftliche und kulturelle Perspektiven der Küstenbevölkerung entscheidend sein werden für eine erfolgreiche Reaktion auf die künftigen Auswirkungen des Klimawandels. Ähnliches lässt sich bereits in einigen vom Meeresspiegelanstieg betroffenen Inselstaaten beobachten, wo kulturelle Eigenheiten die Reaktion der Küstengemeinden beeinflussen: Während sich der pazifische Inselstaat Kiribati auf eine Umsiedlung nach Fidschi vorbereitet, formiert sich in dem nur 26 Quadratkilometer großen Südseestaat Tuvalu heftiger Widerstand gegen ein ähnliches Rettungsprogramm. (tberg, 17.11.2020)