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Der Lockdown sei rechtzeitig gekommen, sagen die Zahlenexperten.

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"Mit einer Wahrscheinlichkeit von 68 Prozent werden sich bis 18. November zwischen 600 und 1.000 Patienten in Intensivbetten befinden." Dieser Satz reicht eigentlich schon aus, um die Komplexität der mathematischen Berechnungen rund um das Infektionsgeschehen zu verdeutlichen. Für Laien meist kaum mehr verständlich, für die Bewertung der epidemiologischen Entwicklung aber von immenser Bedeutung.

Es verwundert deshalb also auch nicht, dass gerade jetzt das sogenannte Covid-Prognosekonsortium – bestehend aus drei Forschungsteams der TU Wien, der Med-Uni Wien und der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) – zu einem Hintergrundgespräch einlädt. Denn die aktuellen Zahlen erschrecken: Nach dem Sprung auf über 6.000 Fälle am 4. November ist am 5. November mit 7.416 Sars-CoV-2-Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden in Österreich der zu erwartende nächste Höchstwert vermeldet worden. 2.737 Personen sind in krankenhäuslicher Behandlung, davon 407 auf Intensivstationen. Erstmals gibt es über 50.000 aktiv Infizierte.

Modelle als Grundlage

Das Konsortium veröffentlicht seit April wöchentlich konsolidierte Kurzfristprognosen zum Verlauf der an Covid-19 erkrankten Personen sowie zu den aktuell verfügbaren Kapazitäten im Spitalsbereich. Drei unterschiedliche Berechnungs- und Prognosemodelle der drei Forschungsteams werden dafür übereinandergelegt, "denn das ist genauer und bildet den Durchschnitt ab", erklärt Florian Bachner von der Gesundheit Österreich GmbH. Außerdem ist das so auch international State of the Art, erklärt sein Kollege, der Komplexitätsforscher Peter Klimek. "Es ist sehr wichtig, dass wir unterschiedliche Modelle nehmen und abgleichen", erklärt auch Simulationsforscher Niki Popper von der TU Wien. Diese Prognosen sind wichtige Grundlagen für Entscheidungen auf politischer Ebene.

So geschehen auch am 20. Oktober, als die Experten die steigenden Neuinfektionen und Hospitalisierungen im Normal- und Intensivbettenbereich als Warnsignal für eine baldige Überforderung des Gesundheitssystems einstufen mussten. "In diesem Moment kam unsere Funktion als Monitoringsystem zum Tragen. Denn wir konnten sehen, dass das Tracing und die Ressourcen unzureichend werden", erklärt Martin Zuba von der GÖG. Resultat: der zweite Lockdown.

Zeit als Faktor

Doch warum erstellen die Experten lediglich Kurzfristprognosen, warum können wir jetzt nicht schon viel weiter Wahrscheinlichkeiten für die Zukunft berechnen? Jegliche Prognosen, die über acht Tage hinausgehen, seien wissenschaftlich weder seriös noch vertretbar, erklärt Florian Bachner. Das untermauert auch Peter Klimek von der Med-Uni Wien: "Die Wissenschaft ist sich einig, dass genaue Mittel- und Langfristprognosen ein Unsinn sind."

In der jüngsten veröffentlichten Novemberprognose geht man davon aus, dass "auch in den weiteren Tagen im Durchschnitt mit bis zu 6.200 neuen Fällen täglich" zu rechnen sein wird. Allerdings gibt es wochentagsbedingte Schwankungen, weshalb Florian Bachner für die Koordination des Prognosekonsortiums auch die Wichtigkeit des Durchschnittswerts betont. Wichtiger Teil der Prognose ist die Kapazitätsvorschau für Spitäler. Die sei für die Planung essenziell. "Analog zum dynamischen Fallgeschehen ist eine deutliche Steigerung zu erwarten", erläutert Bachner.

Verfügbare Kapazitäten

Die am 4. November veröffentlichte Modellrechnung geht von einem Anwachsen auf 760 Patienten auf Intensivstationen bis 18. November aus. Das wäre eine Verdoppelung im Vergleich zum Beginn dieser Woche und hätte eine Auslastung von 38 Prozent aller Intensivbetten für Erwachsene zur Folge, betont er. Das ist ein kritischer Wert, wenn man bedenkt, dass ungefähr 60 Prozent der Intensivbetten akut benötigt werden, also nach Unfällen oder wegen nicht verschiebbarer Eingriffe.

Anhand der Berechnungen gehen die Experten davon aus, dass 6,8 Prozent der Neuinfizierten, also an Covid-19 Erkrankten, hospitalisiert werden. Von diesen 6,8 Prozent landen 5,7 Prozent in der normalen Pflege und 1,1 Prozent auf Intensivstation. Die durchschnittliche Belegungsdauer liegt bei 10,4 Tagen, in der Intensivpflege sind es 12,6 Tage. Wobei Intensivpatienten im Anschluss noch weitere vier Tage in normaler Pflege verbringen. Diejenigen, die versterben, haben in der Regel eine kürzere Belegdauer, erklärt der Experte. Eingeliefert werden Infizierte aber "nicht unmittelbar, sondern zeitversetzt", sagt er. Denn zehn Prozent der Aufnahmen im Normalbereich erfolgen am ersten Tag, 90 Prozent erst nach sieben Tagen. Im Intensivbereich erfolgen hingegen 30 Prozent der Aufnahmen am ersten Tag, 70 Prozent nach mehr als drei Tagen Erkrankung.

Maßnahmen treffen

Auf die Frage nach einer Obergrenze von Normalbetten antwortet Bachner: "Das ist vernachlässigbar, denn es gibt tausende freie Betten", erklärt er. In einen systemkritischen Bereich gekommen ist man erst in der Kalenderwoche 43, genau genommen am 20. Oktober, erklärt der Komplexitätsforscher Peter Klimek. Zuvor war man nur von einer leichten Steigerung ausgegangen. Die veränderte Prognose hat man dann sogleich der Kommission vorgelegt. Die Warnung sei auch angekommen und habe schlussendlich den Lockdown ausgelöst.

Ob der Lockdown aus seiner Sicht zu spät kam, beantwortet Bachner mit "Aus meiner Sicht noch rechtzeitig". Peter Klimek meint, es sei tatsächlich eine Ultimo-Ratio-Maßnahme gewesen. "Wir mussten jetzt einfach reagieren, denn der starke Anstieg der Neuinfektionen und die Knappheit der Spitalskapazitäten waren dabei, systemkritische Ausmaße anzunehmen." Warum die Neuinfektionszahlen derart hinaufgeschnalzt seien, kann auch Klimek nicht kausal erklären. Vermutet werden unterschiedliche saisonale Effekte wie Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen. Faktoren wie die Knappheit der Contact-Tracing-Ressourcen oder abnehmende Temperaturen kann man erst hinterher in neue Berechnungen einfließen lassen, da man vorher ja nicht wissen könne, "wann so was eintritt".

Warten auf Wirkung

Manche Maßnahmen, die im Vorfeld ergriffen wurden, hätten aber durchaus auch Wirkung gezeigt, sagt Bachner, "andere nicht, manchmal ist das aber auch regional abhängig", heißt es weiter. In Österreich sei der Lockdown aber als allerletzte Konsequenz festgelegt worden, sagt Klimek. Und tatsächlich sei der erste Lockdown ernüchternderweise bisher leider die einzige Maßnahme, die wirklich funktioniert hat.

Die ersten Auswirkungen erwartet er zwischen vier und zehn Tagen nach Inkrafttreten der Maßnahmen. Die Zahlen werden dann allerdings erst zeitverzögert hinuntergehen, frühestens nach zwei Wochen, sagt er. Zuerst werde ein Peak bei den Neuinfektionen erreicht, erst später einer der aktiven Fälle – und mit einer weiteren Verzögerung bei den Hospitalisierungen.

Nach den zumindest für einen Monat geplanten Maßnahmenverschärfungen ist nur mit schrittweisen Lockerungen zu rechnen, sagt Niki Popper. Denn aus seiner Sicht stellt sich jetzt viel weniger die Frage, ob der Lockdown zu spät kam, sondern vielmehr, wie wir uns nach diesem zweiten Lockdown verhalten werden. Handeln wir so, wie nach dem ersten, steht uns früher oder später ein erneuter Lockdown bevor – da sind sich die Zahlenexperten einig. (Julia Palmai, 7.11.2020)