Angesichts der weiterhin bedrohlich steigenden Zahl der Neuinfektionen in Italien zieht die Regierung von Giuseppe Conte die Notbremse: Seit Freitag gelten die Lombardei, das Piemont, das Aostatal sowie Kalabrien als rote Zonen, in denen die Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt wird und die Wirtschaft und das öffentliche Leben weitgehend heruntergefahren werden. Im Unterschied zur ersten Welle verhängt die Regierung also nicht mehr einen generellen, im ganzen Land gültigen Lockdown, sondern geht differenziert nach der regionalen Gefahrenlage vor – wie das inzwischen viele europäische Länder tun.

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Giuseppe Conte verordnet Italien einen zweiten Lockdown.
Foto: AP/Carconi

Die Einteilung Kalabriens als rote Zone wirkt freilich paradox: Die arme Region im tiefen Süden weist seit Wochen die niedrigsten Fallzahlen Italiens aus. Am Mittwoch hatte Kalabrien (zwei Millionen Einwohner) gerade einmal 358 Neuinfektionen registriert – in der Lombardei (zehn Millionen Einwohner) waren es 8.822. Ähnlich sieht es bei der Zahl der Infizierten pro 100.000 Einwohner aus: In Kalabrien liegt der Wert bei 132, in der Lombardei bei 768 und im Aostatal bei 1.246. Oder mit anderen Worten: Nirgendwo in Italien ist die Wahrscheinlichkeit so gering, sich mit dem Coronavirus anzustecken, wie in Kalabrien. Trotzdem werden die Kalabresen nun wieder zu Hause eingesperrt.

Katastrophale Versorgung

Der Grund sind die fehlenden Kapazitäten der Krankenhäuser: Von den 9.000 Intensivbetten Italiens befinden sich gerade einmal 146 in Kalabrien – weniger als zwei Prozent. "Bei uns würde ein Infektionsherd in einem großen Wohnblock bereits ausreichen, um das ganze Gesundheitssystem zusammenbrechen zu lassen", betont der Schriftsteller und Regisseur Francesco Villari aus Reggio Calabria bitter. Die Region sei eben nicht erst seit dem neuen Regierungsdekret eine rote Zone: "Sie ist es schon vor der Epidemie gewesen." Die Gesundheitsversorgung in Kalabrien sei derart katastrophal, dass man auch an harmlosen Krankheiten sterben könne. Wenn man in Kalabrien krank werde, höre man deshalb immer den gleichen Rat: "Geh in eine andere Region, um dich behandeln zu lassen."

Die offiziellen Zahlen belegen die Misere. Kalabrien belegt in allen nationalen Krankenhausstatistiken den letzten Platz. Und dies, obwohl die Zentralregierung das kalabrische Gesundheitswesen wegen Unterwanderung durch die 'Ndrangheta und wegen Vetternwirtschaft schon vor über zehn Jahren unter das Kommando eines Sonderkommissars gestellt hat. Der "commissario" hätte das System eigentlich wieder auf Vordermann bringen sollen, stattdessen hat er zu einem Kahlschlag ausgeholt: Unter seiner Regie wurden in den letzten zehn Jahren in Kalabrien 3.700 Ärzte- und Pflegestellen abgebaut, allein in der bevölkerungsreichen Provinz Reggio Calabria wurden fünf Krankenhäuser geschlossen. Das Resultat: An der Südspitze des italienischen Stiefels stehen pro 1.000 Einwohner nur noch 2,5 Spitalsbetten bereit. Im Landesdurchschnitt sind es vier.

Den Niedergang des kalabrischen Gesundheitswesens haben zumindest zum Teil auch die lokalen und regionalen Politiker zu verantworten – aber in erster Linie ist er die Folge einer nationalen Politik, die den ganzen Mezzogiorno, den strukturschwachen Süden, vergessen hat. Ein Beispiel unter vielen: Die modernen Hochgeschwindigkeitszüge fahren nur bis Salerno südlich von Neapel. Kalabriens öffentlicher Verkehr dagegen funktioniert so: Die 400 Kilometer lange Zugverbindung zwischen Reggio Calabria und Taranto in Apulien ist überwiegend einspurig und nicht elektrifiziert. Zum Einsatz kommen Dieselloks, die in anderen europäischen Ländern in Verkehrsmuseen stehen würden. Ohne moderne Infrastruktur ist keine wirtschaftliche Entwicklung möglich: Das durchschnittliche Bruttosozialprodukt pro Kopf liegt in Kalabrien bei 17.000 Euro – in der Lombardei beträgt es 36.000 Euro.

Das arme Kalabrien wird mit dem neuen Lockdown noch ärmer werden: Zehntausende Betriebe müssen nun bis mindestens 3. Dezember erneut schließen. Betroffen ist auch Chiara Tommasello in Reggio Calabria: "Ich habe gestern meinen vermutlich letzten Gast in diesem Jahr empfangen", sagt die Besitzerin eines Bed & Breakfast mit sieben Zimmern. Die 33-Jährige ist Führungsmitglied der linken Bürgerbewegung La Strada, die im September in den Stadtrat von Reggio eingezogen ist; sie wirft den nationalen und lokalen Behörden vor, in Kalabrien das in der Verfassung garantierte universelle Recht auf Gesundheit zu verletzen. "Ich bin nicht gegen die neuen Maßnahmen an sich – diese sind wohl leider unumgänglich. Aber der neue Lockdown zeigt mit aller Brutalität, wie tief die Ungleichheiten in diesem Land sind. Das ist skandalös und inakzeptabel", betont Tommasello. (Dominik Straub aus Rom, 6.11.2020)