Die amerikanische Strukturbiologin Jenifer Doudna hat 2019 gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung einen interessanten Satz gesagt: "Hätte ich noch ein zweites Leben, würde ich Pflanzengenetikerin werden." Die Wissenschafterin, gemeinsam mit der französischen Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier für die Entdeckung der Gen-Schere CRISPR verantwortlich, sprach damit die vielfachen Anwendungsmöglichkeiten dieses Werkzeugs in der Pflanzenbiologie an. Mittlerweile haben beide für ihre Arbeit den Chemienobelpreis 2020 zugesprochen bekommen. Für die Wissenschafterin Ortrun Mittelsten Scheid vom Wiener Gregor-Mendel-Institut (GMI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) eine gute Gelegenheit, noch einmal auf diese Chancen hinzuweisen. Ihr Credo: Für Nutzpflanzen ist CRISPR/Cas9 eine Chance, keine Gefahr.

Weizen wird nicht selten von Mehltau befallen, was den Ertrag deutlich verringert.
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Mittelsten Scheid zeigt dem STANDARD eine engbedruckte Liste mit Titeln von Artikeln aus Fachzeitschriften, die den gegenwärtigen Wissensstand repräsentieren. Mittelsten Scheid: "Jede Woche kommen gleich mehrere Studien dazu." Ein Faktum aus allen bisherigen Untersuchungen: CRISPR/ Cas9 wird erfolgreich angewendet, um Nutzpflanzen durch gezieltes Genom-Editieren ertragreicher, qualitativ besser oder widerstandsfähiger gegen Schädlinge und Klimawandel zu machen.

Kopfschütteln über EuGH

Vor mehr als zwei Jahren hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) allerdings ein für die Züchtung von Nutzpflanzen folgenschweres Urteil gefällt: Solche Anwendungen der Gen-Schere CRISPR/Cas9 bei Pflanzen wurde als Gentechnik deklariert und mit strengen Auflagen reglementiert. Wer also einer Pflanze auf diesem Weg mehr Widerstandsfähigkeit gegenüber Witterung und Schädlingen verschaffen und sie zu Anbau und Nutzung zur Verfügung stellen will, muss ein aufwendiges und teures Bewilligungsverfahren durchlaufen – was Großkonzernen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber kleinen Pflanzenzuchtunternehmen oder NGOs verschafft. Allerdings: Die genetischen Veränderungen durch CRISPR sind von spontan entstandenen Genveränderungen nicht zu unterscheiden.

Wissenschafter fragen sich seither: Wie konnte es zu diesem Urteil kommen? In der traditionellen Züchtung wird genetische Vielfalt durch radioaktive Strahlung oder Einwirkung von Chemikalien, in der Fachsprache Mutagenese genannt, erzeugt. Das Ergebnis sind viele zufällige Genveränderungen, aus denen in folgenden Generationen interessante Varianten herausgesucht und von unerwünschten anderen Mutationen getrennt werden.

Unbedenkliches Verfahren

Dass diese Verfahren für den Menschen unbedenklich sind, ist durch zahlreiche Produkte wie Grapefruits oder Salat im Supermarkt dokumentiert. Kennt man die veränderten Gene, könnte man diese mithilfe der Gen-Schere ebenso, gezielter, schneller und zeit- und kostensparend, erzeugen. Mittelsten Scheid ärgert sich daher über das EuGH-Urteil und die bisherige Diskussion zum Thema Gen-Schere in der Pflanzenwelt: "Wir sollten uns nicht mehr fragen, was die Folgen der Nutzung von CRISPR sein könnten, sondern was passiert, wenn wir dieses Werkzeug nicht verwenden. Es ist leichtsinnig, dass diese Debatte nicht geführt wird."

Die Pflanzengenetikerin Ortrun Mittelsten Scheid hält es für einen Fehler, die Verwendung von CRISPR bei der Zucht von Nutzpflanzen zu beschränken.
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Angesichts der Probleme bei der Versorgung der Weltbevölkerung mit ausreichender und hochwertiger Nahrung "würden wir ohne CRISPR auf Techniken verzichten, die uns bei der Bewältigung dieser Probleme helfen könnten". Die Gen-Schere sei sicher nicht die einzige Lösung, "aber diese Anwendung ganz zu ignorieren, aus ideologischen Gründen oder um eine Klientel zu befriedigen, ist verantwortungslos", sagt die Wissenschafterin. Gute Beispiele für überzeugende Anwendungen gibt es genug: Weizen ist neben Reis und Mais eines der Hauptnahrungsmittel. Bei seinem Anbau gibt es aber gleich mehrere Probleme. Da ist etwa seine Anfälligkeit für Mehltau, einen Pilz, der die Blätter befällt und den Ertrag stark reduziert. In Gerste, einem anderen Getreide, wurde schon vor vielen Jahren eine Variante gefunden, die von dem Pilz nicht befallen wird und eine natürliche Resistenz gegen Mehltau hat.

Defekt im Gersten-Gen

Dafür ist ein Defekt im Gersten-Gen namens MLO verantwortlich. Weizen hat ein ganz ähnliches, aber intaktes Gen, das dem Pilz die Türen öffnet. Im Gegensatz zur Gerste mit zwei Kopien des Gens hat der Weizen gleich sechs davon, die alle mutiert sein müssen, um Resistenz zu erzeugen. Mittelsten Scheid: "In einem klassischen Züchtungsverfahren theoretisch möglich, aber bei einer Generationsperiode von einem Jahr langwierig und kostspielig. Abgesehen davon, dass man die gewünschte Mutation mit den traditionellen zufälligen Methoden erst einmal erreichen muss." Mit der Kenntnis um die Rolle des MLO-Gens und dem CRISPR-Verfahren konnte man dagegen in nur zwei Generationen alle sechs Kopien des Gens ausschalten und den Weizen damit "metaresistent" machen. Widerstandsfähigkeit gegen andere schädliche Faktoren wie Salz oder Schwermetalle im Boden und Trockenheit sind ebenfalls erreichbare Ziele, und das auch in lokal angepassten Sorten.

Mittelsten Scheid betont, dass man mit der Gen-Schere oft gezielt, billiger und schneller etwas erreichen kann, was seit Jahren durch komplexere Verfahren erzielt wurde und keiner Risikodebatte unterworfen ist. Darin liegt in ihren Augen auch die mangelnde Logik des EuGH-Urteils, welches die induzierte Mutagenese in der Züchtung durchaus auch als Gentechnik einstuft, die daraus entstandenen Produkte aber durch historisch erwiesene Verträglichkeit von der Gentechnikregulierung ausnimmt. Mittelsten Scheid: "Wir haben uns im Laufe der Zeit Eigenschaften der Pflanzen ausgesucht, die uns, aber nicht den Pflanzen nützen."

Reife Schoten von Raps sind spröde

Ein Beispiel: Pflanzen verstreuen normalerweise ihre reifen Samen, um in der Fortpflanzung erfolgreich zu sein. Wir bevorzugen aber Pflanzen, die diese Eigenschaft verloren haben, damit wir die Samen möglichst vollständig ernten können. Reife Schoten des Raps sind sehr spröde, was bei der maschinellen Ernte zu erheblichen Verlusten der Samen durch Verstreuen führen kann. Forscher haben ein Gen entdeckt, das für das Öffnen der Schoten verantwortlich ist. Sie haben es Alcatraz genannt, nach dem kalifornischen Hochsicherheitsgefängnis. Wenn man das Gen mutiert, bleiben die Samen in den Schoten, wenn man so will, gefangen. Diese Mutation wurde in Rapspflanzen mit der Gen-Schere kopiert und könnte zu einer Ertragssteigerung führen.

Jennifer Doudna (li.) und Emmanuelle Charpentier wurde Anfang Oktober der Nobelpreis für Chemie zugesprochen.
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In der Forschung ist CRISPR ohne Restriktionen verwendbar. Mittelsten Scheid und viele andere Wissenschafterinnen und Wissenschafter nutzen die Technik, um noch mehr über die in der Forschung beliebten Modellpflanzen wie die Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) zu erfahren. Aus ihrer Sicht wäre es wichtig, die Risikodebatte wissenschaftlich zu führen und das Urteil des Europäischen Gerichtshofs aufzuheben. Dafür müsste das Verfahren aber noch einmal aufgerollt werden. Eine schwierige, aber vielleicht keine unmögliche Aufgabe.

Weizen ist gegenüber dem Mehltau sehr anfällig. CRISPR könnte ihn widerstandsfähiger machen. (Peter Illetschko, 7.11.2020)