Welche Menschen sind das, die hier in der Menge aufgehen? Wer von ihnen hegt böse Absichten gegen die Gesellschaft, und was treibt ihn oder sie an?

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Es bedarf in der Tat einer gewissen Nervenstärke, sich – zugespitzt gesagt – am Vormittag in einen Deradikalisierungskurs zu setzen und am Nachmittag zu versuchen, Munition für ein Attentat zu beschaffen. Der Attentäter von Wien hatte seinen letzten Termin mit seinen Betreuern erst Ende Oktober. Und auch wenn ihm nie ein Persilschein als vom jihadistischen Wahn Geheilter ausgestellt wurde, so ist es ihm doch gelungen, sein nicht-islamistisches Umfeld gründlich zu täuschen.

Erwartungsgemäß blieb der Vorwurf nicht aus, dass er das sozusagen mit islamischem Segen tat. "Taqiya", so heißt es im islamfeindlichen Diskurs, sei die Erklärung dafür: die im Islam angeordnete Verstellung, die Geheimhaltung seiner radikalen islamistischen Ideologie und wahren Absichten.

Die islamische Lizenz zum Täuschen und Betrügen? Die Erlaubnis, am Abend mit den Kuffar, den Ungläubigen, ein Bier trinken zu gehen, um sie am nächsten Tag umzubringen? Wie die Attentäter von 9/11, die zuvor ein ganz normales Leben führten?

"Die Lizenz zum Differenzieren" nannte der Islamwissenschafter und Iranist Bert Fragner vor einiger Zeit seinen Gastkommentar im STANDARD, in dem er auf einen Artikel antwortete, der diese "Lizenz zum Lügen" postuliert hatte.

Furcht und Vorsicht

Fragner verweist auf die Eintragung in Hans Wehrs arabischem Standardwörterbuch (Ausgabe 1985), das Taqiya mit "Furcht" und "Vorsicht" übersetzt, Zusatz: "(bei den Schiiten) Verheimlichung des religiösen Bekenntnisses (bei Zwang od. drohendem Schaden)". Ich schaue zusätzlich in den Wahrmund, erstmals erschienen 1898: Er übersetzt Taqiya als "Gottesfurcht, Furcht, Vorsicht", die "Verheimlichung" fehlt bei ihm völlig.

Der in Wien tätige, deutsche Arabist Adolf Wahrmund war nicht nur Lexikograf. Er begründete den sogenannten "wissenschaftlichen Antisemitismus", und zwar im eigentlichen Sinne, gegen die Juden und Araber gleichermaßen, gegen das auch geistige "Nomadenthum". Die Taqiya, als Erklärung für die Falschheit der Muslime, hätte er gewiss nicht ausgelassen, wäre sie ihm geläufig gewesen.

Dissimulieren des Glaubens

Der Begriff Taqiya ist auch in älteren Islam-Enzyklopädien eher selten zu finden. Er spielte keine Rolle – mehr. Historisch tat er das tatsächlich in den ersten Jahrhunderten der Abbasidenkalifen (749–1258), in denen sich Schiiten und andere ihnen nahestehende Minderheitengruppen auf die Taqiya beriefen, um ihren Glauben zu dissimulieren: In Gefahr durften und sollten sie so tun, als wären sie gar keine Schiiten (oder Alawiten etc.), um ihr Leben – und natürlich auch das Überleben ihrer Gruppe – zu sichern.

Taqiya, das heute jeder islamisch Pseudogebildete parat hat, ist demnach ein Begriff, der im islamischen Diskurs so gut wie keine Rolle spielt. Oder spielte? Vieles, das meiste, das sich radikale Islamisten und Jihadisten in der Gegenwart zur Verwendung für ihre eigenen Zwecke wie aus einem islamischen Setzkasten selektiv herausgenommen haben, wurde ja bereits für obsolet gehalten – wie zum Beispiel die Frage nach der Zulässigkeit der Sklaverei.

In radikalen Moscheen und Koranschulen mag das Verstellen gegenüber Nichtmuslimen gepredigt werden. Aber das ist die eine Sache. Eine andere ist, einer religiösen Gruppe pauschal zu unterstellen, dass ihre tägliche Lebensführung – als normale Mitbürger und Mitbürgerinnen – alleine schon Tarnung und Täuschung sein kann.

Postsalafistischer Islamismus

Der wissenschaftliche Berater der neuen österreichischen "Dokumentationsstelle Politischer Islam", Mouhanad Khorchide, selbst muslimischer Religionspädagoge an der Universität Münster, erhebt den Verdacht der Verstellung natürlich nicht gegen Muslime generell – dann gälte er auch für ihn. Er identifiziert jedoch, ohne das Wort Taqiya zu nennen, eine Gruppe der Tarner und Täuscher unter den Muslimen: die "Postsalafisten", die Vertreter des politischen Islam. Sie täten alles, um nicht aufzufallen, seien "gut integriert", "meist gut ausgebildet, modebewusst".

Für Khorchide ist dieser postsalafistische Islamismus der wirklich gefährliche, "nach dem Untergang des IS und der Distanzierung Saudi-Arabiens vom Salafismus" habe Letzterer an Attraktivität verloren.

Was den Islamwissenschafter Thomas Bauer, ebenfalls Professor in Münster, in seiner sehr scharfen Buchbesprechung zum ironischen Ausritt veranlasste: "Mit anderen Worten: Nicht der Salafist mit dem Zauselbart ist gefährlich, sondern der muslimische Kinderarzt im Anzug, der für den Integrationsrat kandidiert." Mit dem Attentat von Wien, bei dem der "Islamische Staat" erneut sein schreckliches Haupt erhoben hat, ist diese Diskussion wohl wieder beendet.

Die Frage bleibt, ob der Wiener Attentäter einfach log, um nicht aufzufliegen, oder ob er das vor sich selbst "islamisch" begründete. Das wird wohl nie mehr zu klären sein. Dass Tarnen und Täuschen in allen Kulturen zur "Kriegsführung" – wenn nicht gar zur großen Kriegskunst – gehört, ist nicht zu bestreiten.

Bei einem Muslim wird es aber heute sofort islamisch kontextualisiert. Auch auf der politischen Ebene: Wenn der Iran in Bezug auf sein Atomprogramm lügt, dann ist es Taqiya. Wenn Nordkorea in Bezug auf sein Atomprogramm lügt, dann ist es – na ja, Lüge eben.

Schiitisch besetzt

Den Taqiya-Vorwurf an den Iran würden wohl auch die arabischen Golfstaaten unterschreiben, noch immer ist Taqiya von sunnitischer Seite schiitisch besetzt. Oder wie es in einem saudi-arabischen Rechtsgutachten von 2017 – Dank an das Institut für Islamfragen der Evangelischen Allianz – heißt: "Im Islam ist die Lüge (nur) im Notfall erlaubt. Bei den Schiiten jedoch (...) gilt derjenige, der die erlaubte Lüge nicht praktiziert, als gottlos."

Aber auch Sunniten haben natürlich in ihrer Geschichte Taqiya praktiziert, wenn man so will: etwa während der katholischen Reconquista Spaniens, als sie ihre Zwangstaufen durch Konsum von Schweinefleisch bekräftigten (das galt natürlich auch für Juden.) Im Koran ist das erwähnt und erlaubt, allerdings ohne das Wort Taqiya. Man kann das übrigens auch so lesen, dass Märtyrertum keinen Vorrang hatte.

Tief in Telegram-Chats

Die heutigen Attentäter, die mit ihrem eigenen Tod rechnen, mögen das anders sehen. Der deutsche Jihadismus-Experte Guido Steinberg, der nach eigenen Worten "tief in Telegram-Chats hineingeschaut hat" (wo der IS kommuniziert), sagt zum STANDARD, dass ihm das Konzept Taqiya bei den IS-Leuten nie untergekommen sei: "Ich denke eher, dass die Geheimhaltung praktischen Motiven entspringt."

Allerdings berichteten französische Medien vor ein paar Jahren, dass sich Frankreichs Terrorexperten mit Taqiya befassen: Der franko-algerische Al-Kaida-Attentäter Mohamed Meral hatte, bevor er am 22. März 2012 von einer Antiterroreinheit erschossen wurde, den kryptischen Satz ausgerufen: "Nicht das Geld, die Verstellung ist entscheidend!" Allerdings ist das noch immer kein Hinweis dafür, dass taktische Vorkehrungen, nicht entdeckt zu werden, von den Attentätern selbst "islamisiert" werden.

Aber die Kuh ist aus dem Stall – und nicht mehr einzufangen. Auch wenn "der Schläfer" ganz bestimmt kein islamistisches Phänomen ist. Übrigens ist auch der pauschale rassistische Vorwurf der Verlogenheit von Minderheitengruppen nicht exklusiv. Martin Luther etwa rekurrierte gerne auf die Behauptung, dass den Juden im Talmud ein Dispens zum Betrügen Andersgläubiger erteilt werde. Klassischer christlicher Antisemitismus. (Gudrun Harrer, 7.11.2020)