Wer wegen islamistischer Umtriebe im Gefängnis landet, muss in ein Deradikalisierungsprogramm.

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Der Anschlag von Wien brachte nicht nur die Ermittlungsarbeit der Polizei in Verruf, sondern auch den Versuch der Resozialisierung: Der Attentäter F. befand sich in einem der Deradikalisierungsprogramme, die der Verein Derad im Auftrag des Justizministeriums in den Gefängnissen durchführt. Nach der bedingten Haftentlassung im Dezember 2019 kam die Betreuung durch Neustart hinzu. Dieser Verein stellt in Österreich nicht nur die Bewährungshilfe, sondern kümmert sich seit kurzem auf Vermittlung des Verfassungsschutzes auch um Menschen, die in radikale Kreise geraten sind, bisher aber nicht das Gesetz verletzt haben.

Als Vorbildmodell gelten die Niederlande, dort kümmert man sich besonders intensiv um Deradikalisierung – auch schon lange vor einer Haft. Und in den Gefängnissen, mit teils umstrittenen Methoden. So werden etwa alle verurteilten Terroristen gemeinsam in einen Trakt gesperrt, damit sie keinen Einfluss auf andere Insassen haben können. Dass auch das niederländische Modell nicht immer greift, zeigen aktuelle Beispiele und die Erinnerung an grausame Taten.

ÖSTERREICH: Glück nicht erst im Paradies

Es war ein Hype der unheimlichen Art: Als der "Islamische Staat" (IS) auf dem Höhepunkt der Macht im Nahen Osten stand, hängten sich Jugendgangs plötzlich ein ideologisches Mäntelchen um. Profaner Diebstahl und Bestellbetrug galten nun als vom Koran legitimierter Kriegsbeutezug. Danach sei es oft schnell gegangen, sagt Moussa Al-Hassan Diaw: Innerhalb weniger Monate machte sich so mancher in Richtung Syrien auf, landete im Gefängnis und in der Folge im Deradikalisierungsprogramm von Derad.

Überwiegend Männer zwischen 15 und 25 Jahren sind es, die der Religionspädagoge Diaw und sein 13-köpfiges Team betreuen, die regelmäßigen Gespräche ziehen sich mitunter über Jahre. "Als Oberlehrer brauchen wir ihnen nicht zu kommen", sagt der Vereinsleiter. Stattdessen gilt es, den eigenen Trumpf – Sattelfestigkeit in Glaubensfragen – auszuspielen. Langwierig fallen Debatten über den Koran und die Geschichte aus. Behauptet ein Jihadist, dass "Kuffar" (Ungläubige) zu bekämpfen seien, berichten die in der Regel muslimischen Betreuer Gegenteiliges aus dem Leben des Propheten. Geht es um die Zerstörung von "Götzenbildern", halten sie Belege entgegen, die diese Praxis weit nach Mohammed datieren.

Viel sei schon gewonnen, wenn ein Klient alternative Sichtweisen zumindest respektiert, sagt Diaw. Regten sich dann Zweifel am eigenen Weltbild, beginne das ideologische Gebäude zu bröckeln – und damit die Illusion, dass der IS das bessere System biete.

Kommt ein Täter unter Auflagen auf freien Fuß, steigt zusätzlich Neustart in die Arbeit ein. Den theologischen Hebel haben die Bewährungshelfer nicht, die erste Reaktion ist in der Regel Ablehnung. Tenor: Allah schaut eh auf mich.

Islamistische Parolen ließen die Betreuer erst einmal unwidersprochen stehen, sagt Neustart-Sprecher Andreas Zembaty. Ziel sei es, zum Menschen hinter der Fassade vorzudringen: zu Geschichten über verfahrene Vater-Sohn-Beziehungen, Mobbing im Park und andere Frusterlebnisse. "Ehe sie uns glauben, testen sie uns ab", erzählt Zembaty. Also unterstützen die Bewährungshelfer bei der Jobsuche, beim Antrag auf Sozialhilfe oder bieten einfach einmal die Möglichkeit an, sich auszukotzen. Im Erfolgsfall merkten die Klienten irgendwann, dass das Glück nicht erst im Paradies warten muss.

Doch wie oft klappt das? Von 116 wegen jihadistischer Umtriebe verurteilten Personen, die Neustart seit 2006 betreut hat, seien nur fünf wieder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, rechnet der Sprecher vor. Doch natürlich sei ein schrecklicher Einzelfall Anlass genug, das System zu verbessern, zu allererst beim Informationsabtausch. Eigentlich gibt es die Möglichkeit, in "Fallkonferenzen" alle Akteure – von der Exekutive über die Justiz bis zu den Deradikalisierungsarbeitern – an einen Tisch zu bringen. Allerdings müsse die Polizei dazu einladen, sagt Zembaty. Das sei bislang nicht passiert.

Ein Jihadist verteidigt sich

Eine Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie gab 2017 Hinweise auf weitere Defizite: Derad brauche einen "Professionalisierungschub", zudem zeigten sich Betreuer in ihren Berichten Fälle mitunter "überraschend arglos". Wenn sich ein Klient in Sachen extremistischer Ideologie unwissend präsentiere, werde das mitunter für bare Münze genommen, nach der Logik: Ein echter Jihadist verteidige seine Haltung.

Diaw nennt diese Kritik allerdings eine "falsche Darstellung", die sich leicht widerlegen ließe – wenn er denn Berichte veröffentlichen dürfte. Außerdem sei die Studie überholt, weil veraltet.

Wer sich in der Expertenschaft umhört, stößt auf recht positive Urteile. "Derad ist das Beste, was wir haben", sagt der Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker von der Uni Wien und sieht die heimische Deradikalisierungsarbeit inhaltlich "gut aufgestellt". Doch bis hin zur Wiener Jugendarbeit und zur Gefängnisseelsorge der Islamischen Glaubensgemeinschaft gebe es ein übergreifendes Problem: zu wenig Geld und zu wenig Personal.

NIEDERLANDE: Die Zeit im Gefängnis nutzen

Sogar in den Niederlanden gibt es Beispiele dafür, dass Deradikalisierung nicht immer gelingen kann. Etwa die "Zelle des 27. September". Mehrere Täter planten einen Anschlag – nur ganz knapp wurde er verhindert. Unter den Festgenommenen war ein Mann, der bereits wegen eines Terrordelikts verurteilt worden war, er galt als mustergültig deradikalisiert.

Die Niederlande werden als Vorzeigeland in Sachen Deradikalisierung hochgehalten. Noch in der Nacht des Anschlages in Wien sprach Terrorismusforscher Peter Neumann live im Fernsehen davon, dass dort vieles besser gelinge als hier zulande. Die Frage ist, ob und was man daraus lernen kann.

Deradikalisierung beginnt dort schon lange vor einer etwaigen Haftstrafe und auch dann, wenn jemand zwar radikal ist, aber noch keine Terrortat begangen hat. Doch das musste man auch in den Niederlanden schmerzlich lernen. Am 2. November 2004, exakt 16 Jahre vor dem Terrorattentat in Wien, startete dieser Lernprozess. An diesem Tag wurde Theo van Gogh von einem islamischen Fundamentalisten ermordet. In diesem Jahr begannen Städte in den Niederlanden eigene Richtlinien und Strategien zu entwickeln, wie sie mit Personen, die auf dem Weg zur Radikalität sind, umgehen sollen.

Dazu gehöre einerseits, dass Jugendarbeiter ein Auge auf die Communitys haben, "sie wieder an Bord holen, wenn sie den Anschluss zur Gesellschaft verlieren", nennt Daan Weggemanns das. Und es gibt individuelle Konzepte: Treten einschlägige Signale auf, wird die Gemeinde aktiv und hilft. Und sie warnt Gefährder davor, dass sie im Rechtssystem landen, wenn sie sich nicht ändern.

Daan Weggemanns beschäftigt sich an der Universität Leiden mit der Radikalisierung und der Inhaftierung und Wiedereingliederung von Jihadisten. Auf die Frage, warum denn Deradikalisierung in den Niederlanden so gut funktioniert, sagt er: "Das ist leider eine langweilige Antwort."

Ein Generalrezept gibt es nicht, jeder, der radikal ist, ist anders. Und jeder ist aus anderen Gründen radikal: "Da gibt es ideologisch Gesteuerte, da gibt es welche, wo Freunde und Familie Einfluss nehmen, und da gibt es die, die Spaß suchen, die sich auf ein Abenteuer einlassen wollen, wenn sie in den Krieg ziehen", sagt er.

Also muss jedes Deradikalisierungskonzept maßgeschneidert werden, für jeden Betroffenen und immer wieder aufs Neue. Manche brauchen psychiatrische Behandlung, wieder andere einen neuen Job. Und viele brauchen neue Freunde. Wie man das erreicht? Wenn es sein muss, auch durch Betretungsverbote von Gegenden, in der viele Radikale wohnen, sagt Weggemanns.

Ein Trakt für Terroristen

Auch mit verurteilten Terroristen gehen die Niederlande recht ungewöhnlich um. Sie werden alle in einen Flügel der Justizanstalt gesperrt und kommen nicht mit anderen Häftlingen in Kontakt. So können sie andere nicht radikalisieren. Das ist der theoretische Vorteil. Der praktische Nachteil: Sie können einander immer mehr radikalisieren. Aber die Zeit in Haft werde gut genutzt, sagt Weggemanns, denn: "Irgendwann werden sie rauskommen." Ab dem allerersten Tag ist die Vorbereitung auf diesen Tag der Entlassung das erklärte Ziel eines Teams aus Imamen, Sozialarbeitern, Psychiatern und Psychologen.

Doch zu erkennen, wann es gelungen ist, einen Jihadisten zu deradikalisieren, ist die Ein-Millionen-Dollar-Frage, sagt der Wissenschafter. "Es wird immer einen Moment geben, da man sie gehen lassen muss." Und jedes Mal jage dieser Moment allen Beteiligten Angst ein. Aber jemandem für immer die Polizei an die Fersen zu heften, wäre erstens zu teuer, zweitens ein Grundrechtsproblem.

Meistens lägen die Experten mit ihrer Einschätzung richtig. "Aber klar gibt es welche, die angelogen werden", sagt Weggemanns. Das sei frustrierend. Aber man müsse auch das akzeptieren. (Gerald John, Gabriele Scherndl, 7.11.2020)