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Wahlleute unterschreiben ihre Stimmzettel.

Foto: Reuters / Jonathan Drake

Alle Welt blickte auf die zäh einlangenden Ergebnisse der Präsidentenwahl, als in Colorado etwas Bemerkenswertes passierte. Die Mehrheit der Bürger befürwortete, dass sich der Bundesstaat dem "National Popular Vote Interstate Compact" (NPVIC) anschließen möge. Bereits 2019 dort in Kraft getreten, hat der Pakt zum Ziel, das umstrittene Electoral College (EC) auszuhebeln, also das den USA eigentümliche Wahlleutesystem.

Der US-Präsident wird bekanntlich nicht direkt vom Volk gewählt, sondern von 538 Wahlleuten, die durch den Wahlprozess ermittelt werden. Es sind die Bundesstaaten, die die Leute bestimmen, und zwar nicht basierend darauf, wer landesweit die meisten Stimmen hat, sondern im Bundesstaat. Fast alle Staaten folgen außerdem dem Winner-takes-it-all-Prinzip. Egal, ob man 50,1 oder 100 Prozent gewinnt, die Wahlleute gehören alle dem Sieger und sollten für diesen stimmen.

Gerade bei knappen Wahlen kann es bei dem System passieren, dass nicht der oder die mit den meisten Stimmen Präsident wird, sondern der landesweite Verlierer, weil er in einem entscheidenden Bundesstaat siegt. Zuletzt geschehen 2016, als Donald Trump Präsident wurde. Auch Al Gore erging es 2000 gegen George W. Bush so.

Undemokratisch

Den Wunsch, das System abzuschaffen, gibt es schon lange. Es sei überholt, undemokratisch und widerspreche der Idee von "One person, one vote" – sprich: dass jede Stimme gleich viel wert sei. Regelmäßig verlagert sich der Wahlkampf fast ausschließlich in die Swing-States Florida, Pennsylvania und Ohio, wo viele Wahlleute zu holen sind.

Ein weiteres Problem sind abtrünnige Wahlleute. Schon am Donnerstag, im Lichte einer sich abzeichnenden Niederlage für Trump, haben einige republikanische Haudegen Stimmung dafür gemacht, dass die Wahlleute auch in Staaten, die an Biden gingen, diesen nicht wählen sollten. Fox-News-Moderator Mark Levin machte auf Twitter dafür Stimmung, dass die Parlamente der Bundesstaaten so oder so Trump-Wahlleute aufstellen sollten. Ein Bundesgesetz dagegen gibt es nicht.

Nachdem die Wahlleute im Kompetenzbereich der einzelnen Bundesstaaten liegen, gibt es unterschiedliche Regeln, ob untreues Stimmverhalten geahndet wird oder nicht. In 33 Bundesstaaten ist es verboten, bestraft wird es in knapp der Hälfte davon. Dazu sei aber gesagt, dass äußerst selten untreu gewählt wird: 165-mal bei insgesamt 23.500 Wahlleuten.

Abschaffung unwahrscheinlich

Dass das EC über die Verfassung abgeschafft werden könnte, ist äußerst unwahrscheinlich. Zu groß ist die Hürde der Zweidrittelmehrheit. Der Pakt zur Durchsetzung des Popular Vote setzt daher auf bundesstaatlicher Ebene an, wo ja die Kompetenz für die Wahlleute liegt. Die Idee des Pakts ist es, genug Bundesstaaten zusammenzubringen, die sich dazu verpflichten, den Kandidaten zu wählen, der landesweit die meisten Stimmen hat.

Der Pakt tritt dann in Kraft, wenn sich ihm Bundesstaaten mit insgesamt 270 Wahlleuten angeschlossen haben. Damit wäre das Electoral Collage de facto ausgehebelt. Bisher machen 16 Bundesstaaten mit insgesamt 196 Wahlleuten mit. Es fehlen also noch weitere 74.

Doch es wird gar nicht so leicht sein, weitere Verbündete zu finden. Denn was für die einen veraltetes Politikwerk ist, ist für die anderen der ganze Stolz der Nation – und ein passendes Mittel gegen die "Tyrannei der Mehrheit", wie es oft heißt. Eine Abschaffung des EC geht für viele an die Grundfeste der amerikanischen Demokratie.

Kompromiss der Gründerväter

Denn der Kompromiss, der ihm zugrunde liegt, geht auf die Gründerväter zurück, die sich um einen Ausgleich zwischen bevölkerungsreichen und bevölkerungsarmen Staaten bemüht haben, zwischen urbanen Zentren und ländlichem Raum. Sie haben sich auf eine Form der politischen Repräsentation geeinigt, die gewährleisten soll, dass die einzelnen Staaten gleichgestellt sind, inklusive Sicherstellung, dass auch die bevölkerungsärmeren Bundesstaaten Gehör in Washington finden.

Dieser Kompromiss ist in der Zusammensetzung von Senat und Repräsentantenhaus umgesetzt und spiegelt sich auch im EC wider: Kleine Staaten haben im Vergleich zur Bevölkerung tatsächlich mehr Gewicht.

In der aktuellen politischen Gemengelage bedeutet das, dass die Republikaner einen Vorteil haben, weil die ländlichen Bundesstaaten tendenziell republikanisch wählen, die urbanen Zentren demokratisch. Ob man für oder gegen den EC ist – dahinter steckt also oft parteipolitisches Interesse.

Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass alle Staaten, die sich bisher dem NPVIC angeschlossen haben, demokratische Hochburgen sind – bisher. Denn mit Colorado ist der erste Swing-State dem Pakt beigetreten. Dass sich auch traditionell tiefrote Staaten anschließen, könnte aber noch dauern. (Anna Sawerthal, 7.11.2020)