Großer Andrang herrschte diesmal bereits beim Early Voting, also bei der Stimmabgabe vor dem Wahltag – hier in Tampa, Florida.

Foto: EPA / Peter Foley

In der Wahlnacht saß ich wie hypnotisiert vor meinem Mac und habe in unregelmäßigen Zeitabständen die Website der "Washington Post" aktualisiert. Was ist passiert? Was ist bloß mit diesem Land los? Dabei waren alle meine Freunde auf Facebook und die paar, die ich persönlich treffe, sehr optimistisch. Auch alle anerkannten Umfrageinstitute haben uns einen Sieg Joe Bidens fast garantiert und einen demokratischen Erdrutschsieg vorhergesagt. Uns wurde angekündigt, dass wir wegen des verspäteten Auszählens der Briefwahlstimmen zuerst von einer republikanischen "red mirage" (roten Fata Morgana) verwirrt werden würden, nur um dann von einer demokratischen "blue wave" (blauen Welle) überrollt zu werden.

Doch obwohl mehr als 100 Millionen Menschen mittels Briefwahl gestimmt haben, hat sich diese blaue Welle nicht eingestellt. Nun sah es so aus, als wäre sie viel kleiner als angekündigt – und als könnten die Demokraten Sitze im Repräsentantenhaus und im Senat verlieren. Sie hatten ihren Wählern geraten, mittels Briefwahl zu wählen, um Ansteckungen mit dem Coronavirus zu vermeiden. Donald Trump, der Präsident, der sich über das Maskentragen seines Opponenten lustig macht, hat seinen Wählern hingegen geraten, am Wahltag persönlich zu wählen. Vom Verdacht getrieben, dass Trump es womöglich schafft, mit den Briefwahlstimmen irgendeinen Hokuspokus zu inszenieren, sind viele von uns aber trotz Pandemie zur Wahlurne gegangen.

Vier Stunden in der Schlange

Meine Freundin Rita* lebt in einer kleinen Stadt, Bucks County, in Pennsylvania. Am Dienstag hat sie sich um 7.20 Uhr in der Früh zum Wählen angestellt. Es war sehr kalt, sie trug eine Haube, Handschuhe, einen Anorak mit Kapuze und natürlich die obligatorische Maske. Rita wollte sich nicht auf die Briefwahl verlassen und lieber auf Nummer sicher gehen. Und dort stand sie dann, vier Stunden lang, um zu wählen. Rita ist gebürtige Bosnierin und kam als Flüchtling nach Amerika. Es war ihr sehr wichtig, zur Wahl zu gehen.

Mein Freund Roy* lebt in einer kleinen Stadt in Westchester County in New York. Am Dienstag stieg er um 11.15 Uhr in sein Auto, um zum Wahllokal zu fahren. Das war sein dritter Versuch zu wählen. Die Möglichkeit, seine Stimme frühzeitig abzugeben, also Vorwahlen, gab es in New York nur in gewissen Bezirken. Roy versuchte zweimal, im Nachbarort zu wählen, wo größere Teile der Bevölkerung afroamerikanische und lateinamerikanische Wurzeln haben. Beide Versuche hatte er abgebrochen, da er die Schlangesteherei hasst und nicht mit circa 30 anderen Leuten im strömenden Regen warten wollte.

Der Dienstag war also der letzte mögliche Tag, um sein Wahlprojekt erfolgreich abzuschließen. Bevor Roy ins Wahllokal ging, hatte er jedoch noch seine Vollmontur angezogen, um sich vor dem Coronavirus zu schützen. Er trug eine N95-Maske, darüber ein Tuch, eine Taucherbrille über seiner normalen Brille und seine Gummihandschuhe, nur um sicher zu gehen. (Leider habe ich kein Foto von diesem Anti-Covid-Outfit.) Er stellte sich hinter einer einzigen anderen Person an, und nachdem seine Identität überprüft worden war, füllte er seine Wahlkarte aus, marschierte zu einer Wahlmaschine (die die Stimme automatisch zählt, aber zur Sicherheit auch eine Papierkopie der Wahlkarte produziert).

Blockaden durch Trump-Fans

Innerhalb von 15 Minuten war Roy wieder draußen. Etwas überrascht sah er beim Hinausgehen, dass sein Wahlzettel in der Wahlmaschine, die die Anzahl der abgegebenen Stimmen anzeigt, um den Wählern die Sicherheit zu geben, den Vorgang erfolgreich abgeschlossen zu haben, Stimme 90 war. Das heißt, dass in den 30 Minuten, seitdem das Wahllokal geöffnet war, offenbar nur 90 Menschen in Croton-on-Hudson gewählt hatten, was ihm wenig vorkam.

Roy wollte mir auch einreden, dass ich unbedingt schon am Montagabend nach Morristown, New Jersey, fahren sollte, um sicherzugehen, dass ich auch wählen kann. Diese Vorsicht, obwohl in seinem Fall ganz klar angeboren, hatte auch einen anderen Grund: An den Vortagen hatten nämlich Gruppen von Trump-Fans mit ihren Trucks samt Fahnen und "Make America Great Again"-Schildern sowohl den Garden State Parkway als auch die Tappan Zee Bridge blockiert und damit den Verkehr auf der Route nach New Jersey zeitweise zum Erliegen gebracht. Ich dachte, das klingt nach Panikmache, und bin deshalb erst am nächsten Tag, also am Morgen des Wahltags, losgefahren. Natürlich ist die Fahrt ganz ohne Aufregung abgelaufen.

Ein Postamt in Morristown, New Jersey. Meinen Wahlzettel habe ich nie bekommen.
Foto: AFP / Theo Wargo

New Jersey hat im Wahljahr 2020 eine Briefwahl für alle Wähler eingeführt. Das sollte das Wählen während der Pandemie sicherer machen. Alle kriegten ihre Wahlzettel per Post zugesandt. Alle – nur ich nicht. Nachdem ich das Morris County Election Center zweimal angerufen hatte und mir jedes Mal versichert wurde, dass meine Wahlkarte jetzt auf dem Weg sei, ist sie nie angekommen. Als ich am Dienstag um etwa 10 Uhr morgens in Morristown Richtung Amtsgerichtsgebäude ging, dachte ich, da stimmt was nicht: kein speziell dichter Verkehr, keine Menschenschlangen, kaum jemand vor der Tür des Amtsgebäudes. Ich vermutete, ich sei am falschen Ort.

Die Geografie des Schlangestehens

Vor der Tür des Gebäudes war jedoch ein oranges Schild aufgestellt, das ankündigte, dass hier heute gewählt wird, und zwar erst auf Spanisch und dann auf Englisch. Beim Hineingehen fiel mir auf, dass etwa genauso viele freiwillige Helfer wie Wähler in der Halle des Amtsgerichts herumstanden. Ich zeigte einer netten Dame meinen Führerschein, und sie schickte mich zu einem Tisch auf der anderen Seite des Raumes. Dort holte ich mir einen vorläufigen Stimmzettel (provisional ballot) ab und setzte mich an einen der sechs oder sieben Tische, die mit ihren etwa einem Meter hohen Karton-Trennwänden auch genügend Privatsphäre ermöglichten. Ich füllte den Wahlzettel samt den drei Referenden-Fragen aus, steckte den Stimmzettel in das Kuvert, füllte das Kuvert aus und gab es einem freundlichen Herrn, der es in einen großen schwarzen Plastikcontainer warf. Das war's. Die ganze Geschichte hat fünf Minuten gedauert.

Im Gegensatz zur Erfahrung von Roy und mir ging es vielen Wählern eher wie Rita. Generell kann man sagen, dass Wählerinnen und Wähler im Süden, vor allem in Texas und Georgia sowie in vielen Städten wie etwa Philadelphia, häufig der Wahlbehinderung ausgesetzt sind. Die Geografie des Schlangestehens war oft nur in gewissen Wahlbezirken klar erkennbar. Absichtliche Wahlbehinderung, zum Beispiel durch das Entfernen von Briefkästen inmitten der Briefwahl oder durch das Aufstellen von nur einer Dropbox pro County, wie in Texas, wurde klar von der Regierung gefördert.

Viele Regeln, ein Muster

In Harris County, dem größten County in Texas, in dem 4,7 Millionen Leute leben, heißt das, dass viele Wähler mehr als 50 Meilen (80 Kilometer) weit von dieser einen Dropbox entfernt wohnen. Die drei Richter, die den Richterspruch einer niedrigeren Instanz zurückgewiesen und Gouverneur Greg Abbotts Recht bestätigt haben, die Anzahl der Dropboxes auf jeweils eine pro County zu limitieren, wurden im Übrigen von Donald Trump ernannt.

Obwohl die Wahl womöglich schon entschieden worden ist, wenn Du das liest, solltest Du über den Wahlvorgang in den USA das Folgende wissen: Jeder Staat hat Regeln für die Briefwahl, für das Early Voting, für die Dropboxes und für die persönliche Wahl – und Regeln dafür, wie diese Stimmen gezählt werden. Wie die Erfahrung von mir und meinen Freunden mir zeigt, sind Schwierigkeiten, die mit der Wahl verbunden sind, geografisch bestimmt. Da gibt es große Unterschiede. Und oft profitieren davon weiße Wähler aus der Mittelschicht. (Barbara Franz aus Morristown, 6.11.2020)

*Name von der Redaktion geändert

Barbara Franz studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien und Politikwissenschaft und Geschichte in New York. Sie ist Professorin für Politikwissenschaft an der Rider University in New Jersey und forscht unter anderem im Feld der Immigrations- und Flüchtlingspolitik. Franz ist Kärntnerin und Amerikanerin.
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