Unser Klassenvorstand am humanistischen Amerling-Gymnasium in Wien, Herrmann Lein, führte uns in der sechsten oder siebten Klasse in den Film "Mein Kampf" von Erwin Leiser – ein Doku-Klassiker über das Dritte Reich. Da sahen wir zum ersten Mal die Filmaufnahmen aus den KZs mit den Bergen ausgezehrter Leichen. Das war in den frühen 60er-Jahren in Österreich nicht selbstverständlich. Wir haben diese Bilder nicht vergessen. Es gab in der Klasse sicher ein paar, in deren Elternhaus über "diese furchtbare Zeit" ungern gesprochen wurde. Aber ich glaube, sagen zu können, dass jedem erstmals dämmerte, was menschenmöglich ist.

Kerzen- und Blumenmeer an einem der Tatorte des Terroranschlag in Wien.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Heute kann man (Video-) Dokumente über aktuelle Gräueltaten mit ein paar Klicks aufrufen. Das verschärft noch einmal die Frage: Soll man das Böse zeigen? Oder: Wie weit soll man das Böse zeigen? Es ist ein schmaler Grat. Im Zusammenhang mit islamistischen Attentaten gibt es die Denkschule, man solle möglichst nicht die Namen der Täter nennen, nicht ihre selbstgemachten Fotos und Videos zeigen, denn Terrorismus sei ganz überwiegend eine "Propaganda der Tat", und man solle diese Selbstverherrlichung nicht auch noch unterstützen. Das ist ein valides Argument. Der STANDARD und die meisten seriösen Medien zeigten daher auch nicht das Foto, das der Wiener Attentäter von sich selbst mit seinem Waffenarsenal aufgenommen hat. Es ist das schon bekannte Sujet der Islamisten, sein zusätzlicher Erkenntniswert ist nahe null. Schon gar nicht zeigten wir das Video, bei dem die Ermordung eines Opfers zu sehen ist. Da geht es um Menschenwürde. Das Fellner-Medium "Oe24" und die "Krone" brachten es ursprünglich, nahmen es dann aber von der Website, nachdem es Empörung – und einen Boykott großer Inserenten – gab.

Vernichtungswillen

Es gibt allerdings auch die Meinung, dass man eine solche Szene auch nicht beschreiben soll. Ich glaube dennoch, das ist zulässig, weil es um den unbedingten Vernichtungswillen des Attentäters geht. Manchmal muss man daran erinnert werden: Das Böse existiert. Es gibt nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Ideologien und Organisationen, deren Essenz ein unbedingter Vernichtungswille ist. Das muss man bewusst machen. Es gibt öffentlich gezeigte (Film-)Aufnahmen von Erschießungen von Juden und Partisanen durch "Einsatzgruppen" und Wehrmacht. Im Holodomor-Museum in Kiew gibt es schauerliche Fotos von der Hungersnot in der Ukraine, die Stalin bewusst herbeigeführt hat. Der Film von einem südvietnamesischen General, der einen gefangenen Vietcong in den Kopf schießt, trug dazu bei, den Vietnamkrieg zu delegitimieren.

Die innermuslimischen Kriege und der gegen andere Muslime und gegen die "Ungläubigen" gerichtete Terrorismus sind derzeit die blutigsten und gewalttätigsten Ereignisse auf der Welt. Das ist eine Realität. Ihre Folgen reichen bis zu uns, und wir können sie nicht völlig ausblenden. Es gibt exzellente Studien über die Motivation islamistischer Terroristen, und dazu gehört auch das Wissen, wozu sie fähig sind. Man muss das Merkmal des absoluten Vernichtungswillens benennen können.

Man soll keinesfalls "alles" zeigen. Man soll klug und behutsam auswählen. Aber man muss die Realität begreifbar machen. Man kann den größten Konflikt unserer Zeit nicht im Nebel der Abstraktion verschwinden lassen. (Hans Rauscher, 6.11.2020)