Karl Nehammer zeigt zwei Gesichter: Der Anschlag von Wien war noch keinen Tag her, da schob der Innenminister (re)flexartig Schuld auf die Justiz . 24 Stunden später gab sich der Herr über die Exekutive plötzlich ungeahnt selbstkritisch: Vor dem Attentat sei einiges schiefgegangen, gab er zu. Am Donnerstag klang der ministerielle Auftritt wieder nach Abwiegeln, am Freitag setzte es dann doch Konsequenzen. Der Chef des Wiener Verfassungsschutzes tritt ab.

Innenminister Karl Nehammer ist als Boss dafür verantwortlich, dass Apparat und Arbeit funktionieren.
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Soll Nehammer dem Spitzenpolizisten folgen? Dafür spricht das Gewicht der Vorwürfe. Offenbar hat der Verfassungsschutz Informationen über den versuchten Munitionskauf des Attentäters in der Slowakei nicht weitergegeben, eine Meldung an die Justiz hätte den IS-Anhänger womöglich zurück ins Gefängnis gebracht. Da geht es um nichts Geringeres als um Menschenleben – und Nehammer ist als oberster Boss dafür verantwortlich, dass Apparat und Arbeit funktionieren.

Entgegenhalten lässt sich, dass der ÖVP-Politiker erst seit Jahresbeginn Minister ist. Für den schlechten Zustand des Verfassungsschutzes sind seine Vorgänger weit mehr verantwortlich als er selbst. Die Neuaufstellung der Behörde, die Nehammer im Frühjahr skizziert hat, konnte unmöglich bereits in diesem Jahr greifen. Ein persönliches Fehlverhalten ist aus dem Sachverhalt nach aktuellem Stand nicht abzuleiten.

Nehammer hat es in der Hand, ein weiteres Argument für sich zu verbuchen: mit harter Aufklärung ohne Abwälzungsversuch. (Gerald John, 6.11.2020)