Die Intensivstationen füllen sich – und zugleich wird das dort benötigte Personal immer knapper. Vor allem im Westen Österreichs nimmt die Entwicklung eine gefährliche Dynamik.

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Die Situation ist ernst, und die Appelle der Politik an die Bevölkerung werden eindringlicher. Allen voran von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), der am Freitag anhand aktueller Zahlen erklärte, wie dramatisch sich das Corona-Infektionsgeschehen entwickelt: "Die zweite Welle ist noch viel stärker, gravierender und dynamischer."

Vor einem Monat gab es durchschnittlich etwa 750 Neuinfektionen pro Tag in Österreich, am Donnerstag waren es bereits 7.400. "Zu diesen Größenordnungen muss ich nichts mehr sagen – das sind dramatische Steigerungen", betonte Anschober.

Auch die Todesfälle nehmen zu. Von Donnerstag auf Freitag sind 72 Personen an und mit einer Covid-19-Infektion verstorben. In nur einer Woche starben 258 Personen. Das ist im Vergleich zur Woche davor eine Verdopplung.

Erste Spitäler ausgelastet

Die Zunahme der Infektionen wirkt sich auf die Belegung der Spitalsbetten aus. 421 Corona-Patienten lagen am Freitag österreichweit auf den Intensivstationen. In Vorarlberg und Tirol sind die ersten in einigen Spitälern bereits ausgelastet.

Noch sind die Länder zwar in der Lage, diese Engpässe landesintern auszugleichen, indem etwa Stationen zusammengelegt, nicht dringliche Eingriffe verschoben und Neuaufnahmen reduziert werden, sofern es möglich ist. "Aber wenn dieser Trend anhält, würden wir in der zweiten Novemberhälfte an die Kapazitätsgrenzen gelangen", warnt der Gesundheitsminister.

Das unterstreicht auch Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG). In den Prognosen gehe man von rund 6.200 Neuinfektionen pro Tag aus. Das bedeute für die Spitalskapazitäten, dass bis Mitte November mit 3.500 Covid-19-Patienten in den Spitälern gerechnet werden müsse – und mit 760 Personen auf den Intensivstationen.

Das würde eine Auslastung von 38 Prozent aller verfügbaren Intensivbetten bedeuten. Ein kritischer Wert, wenn man bedenkt, dass rund 60 Prozent dieser Betten für Akutfälle abseits des Coronavirus benötigt werden.

Die Kurve drücken

Angesichts dieser Zahlen wird klar, wie wichtig die aktuell verordneten Maßnahmen sind. "Wir werden erst nach zehn oder 14 Tagen erste Auswirkungen des Lockdowns sehen", sagte Anschober. Jetzt sei das oberste Ziel, die Kurve zu drücken.

Deshalb richtete der Minister einen flammenden Appell an die Bevölkerung: "Wir müssen die Trendwende zu sinkenden Zahlen hinbringen, damit wir die Kapazitätsgrenze in den Spitälern nicht erreichen. Wir brauchen euch alle, die in Österreich leben. Jeder von uns ist ein Teil der Lösung in dieser Situation."

Tirols Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg (ÖVP) schließt sich diesem Appell an. Neben Oberösterreich und Vorarlberg weist sein Bundesland die meisten Neuinfektionen auf. "Wir müssen diesen Trend sofort stoppen. Anfang Dezember wird es zu spät sein", sagt Tilg zum STANDARD.

Ihm bereiten weniger die verfügbaren Spitalsbetten als das einsetzbare Personal Sorgen. Denn anders als bei der ersten Welle im Frühjahr würden sich derzeit auch immer mehr Krankenhausmitarbeiterinnen und -mitarbeiter infizieren.

Personalaufstockung verschlafen

Sorgen bereitet Anschober, dass auch in den Alten- und Pflegeheimen die Fälle deutlich steigen würden. Deshalb habe man hier die Maßnahmen nachjustiert und die regelmäßigen Tests für Mitarbeiter und Bewohner eingeführt. 110.000 Antigentests seien bereits ausgeliefert worden – eine Million Tests, kommen nächste Woche. Auch der Altersdurchschnitt der Infizierten nehme wieder zu und liege nun bei 43 Jahren.

Beim so wichtigen Contact-Tracing von Kontaktpersonen rächt sich, dass hier eine rechtzeitige Aufstockung von Personal regelrecht verschlafen wurde. Aktuell kann auch nur noch bei 27 Prozent der Infektionen eine zuordenbare Quelle angerechnet werden, sagt Daniela Schmid, die Sprecherin der Corona-Kommission.

Nur noch bei jeder vierten Person ist also der Ursprung der Ansteckung rückverfolgbar. Vor fünf Wochen war das bei jeder zweiten Person möglich. Es würden aber alle Anstrengungen gesetzt, den Anteil der abgeklärten Fälle wieder zu erhöhen, betont Schmid.

Zahlen steigen weiter

Simulationsforscher Niki Popper von der TU Wien rechnet damit, dass trotz des Lockdowns per 3. November die Neuinfektionszahlen bis etwa Mittwoch oder Donnerstag weiter steigen dürften.

Wie stark und schnell die Zahlen nach dem Peak sinken, hängt auch davon ab, in welchem Ausmaß die Bevölkerung diese Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen mitträgt. Ein großer Hebel ist die Reduktion der Freizeitkontakte (siehe Grafik). Werden diese gar nicht oder fast nicht zurückgefahren, ist auch ein weiterer Anstieg möglich.

Mit den gesetzten Maßnahmen hat man laut Popper aber die Pandemie mittelfristig gesehen noch nicht im Griff. "Die Annahme, dass wir mit diesen Einschränkungen von den hohen Zahlen runterkommen und dann wieder alles normal weiterläuft, ist illusorisch", sagt Popper dem STANDARD.

Die Politik müsse sich die Frage stellen, mit welchen Maßnahmen die Corona-Fallzahlen wie weit reduziert werden sollen. "Und wie gehen wir weiter damit um?", fragt Popper. Denn Lockerungen danach seien auch wieder mit Anstiegen verbunden.

Um eine bessere Eindämmung zu erreichen, sei Testen, Tracen und Isolieren unumgänglich. Hier müssten laut Popper auch massive Investitionen ins Contact-Tracing erfolgen, und zwar rechtzeitig. (Steffen Arora, David Krutzler, Julia Palmai, Stefanie Ruep, 6.11.2020)