Das RSO Wien vor schütterer Kulisse, aber sehr gut in Form bei Sofia Gubaidulina.

Markus Sepperer

Zu den Privilegien eines Musikkritikers, der sich für das Festival Wien Modern interessiert, gehört dieser Tage, gratis einen Corona-Schnelltest absolvieren zu dürfen. Die 15 Minuten Wartezeit im Wiener Musikverein entscheiden darüber, ob der Beruf – trotz behördlich verordneter Konzertaskese – doch noch in der üblichen Form ausgeübt werden darf.

Womöglich geht es ja nach positivem Test unverrichteter Dinge in Quarantäne ... Dass die Chance überhaupt besteht, Livemusik mit dem RSO Wien wahrzunehmen, ist natürlich der Hartnäckigkeit der Festivalverantwortlichen zu verdanken.

Ein Leben im Radio

Wien Modern, an sich einen Monat lang, schaffte es heuer nur auf fünf "normale" Tage. Statt danach völlig zu verstummen, hat es Asyl im Digitalen gesucht. Und immerhin ist der ORF aufnehmend dabei, wenn im praktisch leeren Goldenen Saal doch etwas erklingen darf.

Wer die gesundheitliche Aufnahmeprüfung bestand, ist also Zeuge des Konzerts für Festivalgründer und Dirigent Claudio Abbado. Kein Geisterkonzert allerdings, im Musikverein herrscht eher die Atmosphäre einer CD-Aufnahme: Die energische Dirigentin Oksana Lyniv betritt die Bühne und kehrt den Lauschenden gleich den Rücken zu, um mit dem RSO loszulegen. Es geht um eine wilde Neuheit von Sofia Gubaidulina, die längst bei den ebenfalls abgesagten Salzburger Osterfestspielen uraufgeführt hätte werden sollen ... Gubaidulinas Der Zorn Gottes für Orchester kommt über die kleine Hörgemeinde als immer wieder sich auftürmende Blechbläserwelle, der adagioartige Streicherpassagen entgegentreten.

Wimmernder Klang

Mitunter kulminiert das Geschehen in langsam aufsteigenden Passagen, die sich – quasi einer Pyramidenspitze gleich – zum wimmernden Schmerzensklang formen. Teile des Ausdrucksarsenals sind auch perkussive Energetik, tänzerisch anmutende Einwürfe der Holzbläser und Momente, in denen Hörner (und einmal auch Geige) ihre kurzen Soloauftritte begehren.

Essenziell auch die Kombination extrem hoher und sehr tiefer instrumentaler Register, bis das Werk, das etwas länger dauert als der Corona-Schnelltest (also etwa 17 Minuten), monumental-dramatisch endet. Diese komplexe und doch emotional aufgeladene Welt lebt auch in Gubaidulinas Konzert für Viola und Orchester auf. Hier brilliert Bratschist Antoine Tamestit als impulsiver Architekt von abstrakten Linien, die bisweilen in eine nervöse, wehklagende Sanglichkeit übergehen. Im Radio wird man es hören können, wie auch manche der 20 Konzerte, welche Wien Modern über seine Website (oder eben Ö1) nun retten will. Wer hier dabei war, genoss natürlich das Liveerlebnis und würde wohl für ein nächstes weitere Corona-Tests in Kauf nehmen.

Das RSO-Konzert ist sieben Tage lang im Stream zu erleben (wienmodern.at, musikverein.at.), Ö1 sendet es am 26. November ab 19.30 Uhr. (Ljubiša Tošić, 6.11.2020)