In ihrem Gastkommentar "Wiener Mut" im STANDARD, vermutlich eine Anlehnung an das Lied "Wiener Blut" von Falco, schlussfolgert die Extremismusforscherin Julia Ebner, dass Wien gezeigt hat, dass es dem Terror nicht klein beigibt und in paralysierende Angst oder blinde Wut verfällt. Aus ihrer Sicht scheint es, als hätten die Politiker aus Fehlern in anderen Ländern gelernt. Eine sehr positive Beurteilung der Sachlage.

Nur ist das wirklich so? Im Kontext des Beitrages merkt der User "3 Pfeile in den Abgrund" an: “Schöne Worte! Das offizielle Österreich, Journalisten etc reden, schreiben kalmierend, verharmlosend. Man sollte mal raus gehen und zuhören, was die Menschen dazu sagen“. Und der User “Art10 EMRK“ analysiert in seiner Postingheadline “Wenn Eigenlob zum Selbstbetrug wird“. Der Kommentar löst anscheinend eine durchaus kontroversielle Diskussion aus.

Psychische Abwehrmechanismen

Will man die zur Schau gestellte kulturelle Hegemonie etwas stören, könnte man anführen, dass das schreckliche Phänomen des Terrors - zumindest für einen kurzen Moment - die Irritation des Urvertrauens, trotz aller “Wien steht zusammen“-Mantras, zur Folge hatte. Zumindest solange bis das von Sigmund Freud treffend beschriebene Phänomen der Verdrängung als psychischer Abwehrmechanismus einsetzte. Und das ausgerechnet in Wien, der zentralen Wirkungsstätte des österreichischen Arztes. Kommt vielleicht nicht von ungefähr.

Denkt man etwas weiter, so kann man ebenfalls das Modell der Kompensation frei nach dem Psychotherapeuten Alfred Adler, im Umgang mit dem traumatischen Ereignis erkennen. Darunter versteht man jeglichen Prozess, der darauf abzielt, psychische Ungleichgewichte und Einseitigkeiten auszugleichen. Was aber noch elementarer ist, ist die Tatsache, dass in der Psychologie unter Kompensation die Strategie bezeichnet wird, mit der bewusst oder unbewusst versucht wird eine echte oder eingebildete Minderwertigkeit auszugleichen. Nach diesem Ansatz kann eine wirklich vorhandene Minderwertigkeit, die übertrieben erlebt wird, mit einer mehr oder weniger eingebildeten Überlegenheit kompensiert werden. Die Psyche ist in der Konsequenz bestrebt, den Zustand der Unterlegenheit zu überwinden. Ähnlichkeiten mit realen Situationen oder Personen sind rein zufällig, wie es in manchen Filmen so schön heißt.

Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Gespaltene Gesellschaft

Terrorismus darf die Gesellschaft nicht spalten, so der gemeinsame Tenor. Die Aussage ist nicht ganz korrekt, denn diese ist längst gespalten. In Arm und Reich, Fortschrittsgewinner und Fortschrittsverlierer, in politische und religiöse Gruppierungen, in verschiedene Weltanschauungsmodelle, in Fake-News und Faktenchecker und vieles mehr. Deutlicher als in den USA nach den Präsidentschaftswahlen kann man es aktuell gar nicht beobachten. “Wir stehen zusammen“ so lautet eine schöne Formulierung von Politikern. Stehen diese auch zusammen, wenn es um eine gerechte Verteilung von finanziellen Ressourcen geht? Wie sieht es aus, wenn Menschen keine Perspektive sehen und nicht in der Gesellschaft akzeptiert werden?

Die bittere Realität ist, dass weiterhin viele im Regen stehen gelassen werden. Nach dem sozial erwünschten Prozedere kehren wir wieder zu "business as usual" zurück. Corona und die Auswirkungen der Wahlen in den USA warten schon. Bis zum nächsten schockierenden Ereignis, dann geht die Abwehrspirale mit Mitgefühlsäußerungen und Solidaritätsbekundungen weiter und die Suche nach einem Schuldigen geht wieder von vorne los. Warum kann es nicht einen pragmatischen, rationalen Weg zwischen "Wir schaffen das" und “Festung Europa“, zwischen naivem Freund- und unreflektiertem Feindbild geben? Viel wichtiger für aus unserer pluralen Gesellschaft Ausgeschlossene ist, dass sie eine echte Perspektive auf einen adäquaten Beruf und soziale Integration bekommen und nicht nur politische Lippenbekenntnisse.

Wo wir uns verlieren

Zum Abschluss ein Posting des Users “Schwergewicht“ zum kultivierten Sinnieren: "Im Grunde verliert sich jeder Staat/jede Gesellschaft irgendwo zwischen Angst, Relativieren, politischer Korrektheit, ritualisierte Betroffenheitsrhetorik, Stärke signalisierende Floskeln ('Wir lassen uns nicht spalten', 'Wir behalten unseren Lebensstil'), Aktionismus zur Bevölkerungsberuhigung und den wirkungslosen Versuch von Gegenmaßnahmen

Und trotzdem ändern sich dadurch unsere Gesellschaft und unser Lebensstil mehr oder weniger schleichend und unaufhaltsam. Dieser Siedlungsraum wird in 20 Jahren nicht mehr wieder zu erkennen sein.

Wir sehen den Zerfall einer dekadenten, saturierten Gesellschaft, die nur mehr darüber streitet, was man sagen darf und was nicht, und ob Maßnahmen überhaupt rechtlich möglich und moralisch vertretbar sind." (Daniel Witzeling, 11.11.2020)