Als sich am 6. August 2014 kurz nach Mitternacht in der indischen Ladakh-Region das Wasser eines großen Gletschersees plötzlich unterirdisch einen Weg bahnte, kam es für die Bewohner des darunter liegenden Dorfes Gya zur Katastrophe: Landwirtschaftsflächen, Straßen und mehrere Gebäude wurden bei der Überschwemmung weitgehend zerstört. Todesopfer waren zum Glück keine zu beklagen. Nun haben Wissenschafter die Ursachen des Gletschersee-Ausbruchs, im Englischen Glacial Lake Outburst Flood (GLOF) bezeichnet, genauer unter die Lupe genommen.

Der eisbedeckte Gya-Gletschersee kurz nach dem GLOF-Ereignis.
Foto: Marcus Nüsser

Um die Fallstudie in einen größeren Zusammenhang zu stellen, erarbeiteten die Forscher unter der Leitung Marcus Nüsser von der Universität Heidelberg mithilfe von Satellitenaufnahmen ein umfassendes Inventar von Gletscherseen der gesamten Trans-Himalaya-Region von Ladakh. Dabei konnten sie für einen Zeitraum von fünfzig Jahren Veränderungen in der Ausdehnung und Anzahl sowie bislang nicht dokumentierte Gletschersee-Ausbrüche identifizieren. Die Risikobewertung für solche Ereignisse soll auf diese Weise deutlich verbessert werden.

Wachsendes Problem

"Im Zuge des weltweiten Gletscherschwunds, verursacht durch den Klimawandel, wird die Gefahr von Gletschersee-Ausbrüchen zunehmend als drängendes Problem wahrgenommen", betont Nüsser vom Südasien-Institut. Bei einem solchen Ereignis werden unkontrolliert große Mengen an Wasser freigesetzt. Zum Beispiel in Form von Sturzfluten können sie Schäden in Siedlungen, landwirtschaftlich genutzten Bereichen und Infrastruktur hervorrufen.

Um mehr über einen solchen Ausbruch herauszufinden, haben die Heidelberger Wissenschafter einen Gletschersee-Ausbruch in Ladakh untersucht, dessen Flutwelle am 6. August 2014 Häuser, Felder und Brücken des Dorfes Gya zerstörte. Die im Fachjournal "Natural Hazards" veröffentlichten Untersuchungen des auf einer Höhe von über 5.300 Metern gelegenen Gletschersees zeigen, dass der Seespiegel vor dem GLOF-Ereignis kurzfristig stark angestiegen war.

Die durch den Gletscherseeausbruch zerstörte Betonbrücke von Gya.
Foto: Marcus Nüsser

Unterirdischer Wasseraustritt

Wie die Forscher herausgefunden haben, war dafür ein "bislang kaum bekannter Mechanismus" verantwortlich: "Eine verstärkte Gletscherschmelze sorgte für einen extrem raschen Anstieg des Wasserspiegels. Der Entwässerungsvorgang erfolgte dann jedoch nicht als Überlauf, sondern es kam aufgrund des Auftauens von Eiskernen in der Moräne, also in den Schuttablagerungen des Gletschers, zu einem unterirdischen, tunnelartigen Austritt des Wassers, ohne die Moräne oberflächlich zu zerstören", erläutert Nüsser.

Neben den Untersuchungen des Geländes befragten die Wissenschafter auch die Bevölkerung zu ihren Beobachtungen in Zusammenhang mit diesem GLOF-Ereignis. Auf Basis von Satellitenaufnahmen untersuchten sie außerdem die Entwicklung des Gletschersees seit den 1960er-Jahren, um somit mögliche GLOF-Ereignisse zu rekonstruieren.

Gefährdete Stellen identifizieren

"Die zeitlich und räumlich hoch aufgelöste Fernerkundung mit Satellitenaufnahmen in Kombination mit Methoden der Feldforschung vor Ort sollen dazu beitragen, das mögliche Risiko künftiger Ausbrüche in dieser Region besser abzuschätzen", betont der Heidelberger Geograph. Angesichts der immer wiederkehrenden GLOF-Ereignisse können die Gefahren mithilfe des neuen Inventars "neu bewertet, verwundbare Stellen identifiziert und mögliche Anpassungsmaßnahmen entwickelt werden", so Nüsser. In dem betroffenen Dorf Gya zum Beispiel wurden nach der Überschwemmung als Hochwasserschutzmaßnahme Betonmauern entlang des unterspülten Flussufers errichtet, um so die Bevölkerung und Felder vor zukünftigen Fluten zu schützen. (red, 9.11.2020)