Wenn das Duo Biden/Harris im Jänner antritt, steht es außerdem einer Krise gigantischen Ausmaßes gegenüber.

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Es fühlte sich an wie ein Zurücktreten vom Abgrund der Autokratie. Als am Samstagabend Ortszeit Joe Biden und Kamala Harris zu ihren Siegesreden vor die Kameras traten, ging ein Seufzer der Erleichterung durch das liberale Amerika. Der Zeitenwechsel, den sich die Trump-Gegner erhofften, er steht bevor. Die Eskalationsspirale nach unten scheint gestoppt, das Weiße Haus kann endlich – nach vier Jahren der Verachtung für faktenbasierte Vernunft – zur Achtung demokratischer Prinzipien und Institutionen zurückkehren. Die Demokratie hat standgehalten.

Dieses Wahlergebnis ist aus mehreren Gründen ein historisches: Erstens haben unglaubliche 145 Millionen US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner an diesem Urnengang teilgenommen, was der höchsten Wahlbeteiligung seit dem Jahr 1900 entspricht. Zweitens kommt mit der vitalen Vizepräsidentin Kamala Harris erstmals eine Frau ans Ruder – und erstmals eine Tochter von Migranten. Ein außerordentlich wichtiges und viel zu lange entbehrtes Signal der Hoffnung an marginalisierte Gruppen in den Vereinigten Staaten, für die Trump nur Verachtung übrig hatte.

Wohltuender Gegensatz zu Trump

Die Botschaft Bidens Samstagnacht war dementsprechend ein wohltuender und erwarteter Gegensatz zu Trumps angriffigen Schimpftiraden: Es ging um Empathie, Versöhnung, Neubeginn. Und Demut. Eine Demut, die mehr als angebracht ist, denn ein eindeutiges Mandat des Volkes sieht anders aus. Immerhin hat fast die Hälfte der USA mit ihrer Stimme den Kurs von Präsident Donald Trump legitimiert. Bei der Wahl seines Kabinetts muss Biden auch das mitbedenken, muss eine ausgewogene Mischung zwischen links und rechts anpeilen.

Dass ihm das gelingen kann, davon gehen die meisten Beobachter aus, denn schon als Vizepräsident von Barack Obama galt Biden als Inbegriff des erfahrenen Kompromisssuchers. Gut vernetzt, mit innigen Freundschaften zu Republikanern wie John McCain, bemühte er sich im Hintergrund um überparteiliche Zusammenarbeit.

Kein Komfort durch Mehrheit

Freilich, eine Aufgabe, die nach vier Jahren Trump nicht einfacher geworden ist. Auch weil Biden wohl auf den Komfort verzichten muss, seine Präsidentschaft mit einer doppelten demokratischen Mehrheit in Abgeordnetenhaus und Senat zu starten.

Die von dem US-Demokraten im Wahlkampf ausgerufene "Schlacht um die Seele der Nation" ist jedenfalls noch lange nicht gewonnen. Die vielzitierte Spaltung der USA wird nicht über Nacht verschwinden, nur weil Trump nicht mehr am Ruder ist.

Krise gigantischen Ausmaßes

Wenn das Duo Biden/Harris im Jänner antritt, steht es außerdem einer Krise gigantischen Ausmaßes gegenüber. Die Corona-Pandemie belastet Wirtschaft wie Gesundheitssystem. Das gilt erst recht für den Fall, dass der Supreme Court demnächst den häufig als Obamacare bezeichneten Affordable Care Act für verfassungswidrig erklärt und damit zwölf Millionen Menschen auf einen Schlag ihre Krankenversicherung verlieren könnten. Eine verheerende Aussicht. Nicht zuletzt deswegen setzte Biden in seiner ersten Handlung nach der Wahl auf die Bekämpfung der Corona-Gesundheitskrise.

Noch aber ist Trump Präsident der Vereinigten Staaten. Und zwar bis 20. Jänner – eine Zeitspanne, in der der Präsident mit dem schlechtesten Charakter aller Zeiten noch viel Unruhe stiften kann. (Manuela Honsig-Erlenburg, 8.11.2020)