Die Razzien stehen laut Staatsanwaltschaft nicht mit dem Terroranschlag in Wien in Verbindung.

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930 Polizeibeamte waren am Montagmorgen im Einsatz für die Operation Luxor. Gemeinsam mit Verfassungsschützern führten sie 60 Hausdurchsuchungen durch – in vier Bundesländern gleichzeitig. Ziel der Zugriffe waren Personen und Vereine, die die Muslimbruderschaft und die Hamas unterstützen sollen. Das teilte die Staatsanwaltschaft Graz am Montagmorgen per Aussendung mit, am Vormittag bestätigte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) das in Rahmen einer Pressekonferenz.

Man wolle damit besonders auch Muslime vor radikalen Extremisten schützen, sagte Nehammer, der die Muslimbrüderschaft als "zutiefst gefährlich" beschrieb. Besonders brisant: Der ehemalige Innenminister und nunmehrige FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl wusste offenbar von dem geplanten Großeinsatz und verriet ihn im Vorfeld. In der Folge wurde die Operation umbenannt: von "Ramses" in "Luxor". Außerdem wurde die Operation wegen des massiven Polizeieinsatzes im Zuge des Terroranschlags in Wien um eine Woche nach hinten verschoben, sagt die Staatsanwaltschaft.

Kickl verriet Operation "Ramses"

Begonnen habe die Operation, so heißt es von Franz Ruf, Generaldirektor für öffentliche Sicherheit, schon Mitte 2019. Da war Kickl nicht mehr Innenminister, dennoch wusste er offenbar von dem umfassenden Plan. Schon vergangenen Mittwoch – zwei Tage nach dem Terroranschlag in der Wiener Innenstadt – hieß es von Kickl, in den frühen Morgenstunden des 3. November wäre unter dem Decknamen Ramses eigentlich eine große Operation inklusive zahlreicher Hausdurchsuchungen in der Islamistenszene angesetzt gewesen. Kickl nannte damals nicht die Muslimbrüder als Ziel der Aktion, sondern zog eine direkte Verbindung zum Attentat in Wien.

Einen solchen Zusammenhang gebe es aber nicht, sagen Staatsanwaltschaft und Innenministerium. Die Staatsanwaltschaft Graz widerspricht jedoch Medienberichten, in denen es heißt, dass die Aktion durch die Aussagen Kickls gefährdet worden sei. Allerdings bestätigt sie im STANDARD-Gespräch, dass die Aktion bis zur vergangenen Woche tatsächlich unter dem Namen "Ramses" lief, jetzt aber einen anderen Namen habe.

Was die Informationslücke in Richtung Kickl angeht, habe man bereits am Samstag eine Sachverhaltsdarstellung bei der Staatsanwaltschaft eingebracht, sagte Ruf: Es könne nicht sein, dass Details aus geheimen Polizeiaktionen verraten werden.

21.000 Stunden Observation

Die Razzien lösten zahlreiche Ermittlungen im Umfeld der Muslimbrüderschaft aus. Ermittelt wird nun gegen mehr als 70 Beschuldigte, 60 Wohnungen, Häuser sowie Geschäfts- und Vereinsräumlichkeiten wurden durchsucht, sichergestellt wurden elektronische Geräte wie Handys und Computer, aber auch einfache Dokumente. Auch "beträchtliche Vermögenswerte" seien beschlagnahmt worden, Ruf sprach von "Millionenbeträgen".

Im Zuge der Operation wurden 30 Personen festgesetzt, sie sollen "zur sofortigen Vernehmung" den Behörden vorgeführt werden. Es besteht der Verdacht der terroristischen Vereinigung, der Terrorismusfinanzierung, der staatsfeindlichen Verbindungen, der kriminellen Organisation und der Geldwäsche. Seitens der Grazer Staatsanwaltschaft heißt es, im Fokus der Razzia sei die führende Riege der hiesigen Muslimbrüder im Fokus der Polizeirazzia gestanden. Die 30 Personen seien unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zuzuordnen – auch aus dem Geschäftsleben.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft gingen der Aktion "umfangreiche und intensive, über ein Jahr dauernde Ermittlungen" des führend zuständigen Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) Steiermark zusammen mit dem LVT Wien voraus. Eingebunden waren auch das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) und die LVTs Kärnten und Niederösterreich. Außerdem im Einsatz waren die Cobra, die Wega, das Bundeskriminalamt, die Flugpolizei, Sprengstoffexperten und Bargeldspürhunde. Laut Ruf wurden allein in die Observation 21.000 Stunden investiert.

Weltweite Terrororganisation

Nach Einschätzungen der Staatsanwaltschaft ist die Muslimbruderschaft eine "weltweit agierende, radikalislamistische und massiv judenfeindliche" Organisation. Ihr Ziel sei, einen islamischen Staat zu errichten. Auch wenn die Organisation nach außen hin von Gewaltverzicht spricht, soll sie in den Augen der Ermittler Kontakte zu terroristischen Vereinigungen unterhalten, etwa zur palästinensischen Terrororganisation Hamas. Sie verfüge auch über enge ideologische und finanzielle Beziehungen zu islamistischen Gruppen im syrisch-irakischen Bürgerkrieg.

Die Staatsanwaltschaft Graz will unterstrichen haben, dass sich die Aktion nicht gegen Muslime oder gegen die Religionsgemeinschaft des Islam richtet. Sie diene vielmehr "dem Schutz der Muslime, deren Religion für die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ideologien missbraucht wird". Die Muslimbruderschaft sei keine Religionsgemeinschaft, sondern stehe für "religiös motivierten, politischen Extremismus". Die Ziele der Muslimbruderschaft seien mit den Grundprinzipien der Verfassung der Republik Österreich und der österreichischen Gesellschaft "sowie allgemein mit dem westlichen Demokratieverständnis von Koexistenz, Gleichstellung von Männern und Frauen und politischer Ordnung" nicht kompatibel.

Graz im Fokus

In Österreich war die Muslimbruderschaft 2014 überraschend ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Die Scheinwerfer hatten sich auf die steirische Landeshauptstadt Graz gerichtet. Hier, so hatte die britische Tageszeitung "Daily Mail" berichtet, wolle die Muslimbruderschaft ihr neues europäisches Hauptquartier eröffnen. Beweise dafür wurden nicht mitgeliefert, eine tatsächliche "Umsiedelung" von London nach Graz lässt sich bis heute nicht verifizieren.

Allerdings war damals die Rede davon, dass einer der engsten Berater des ehemaligen, 2019 verstorbenen ägyptischen Präsidenten Mursi – ehemals Mitglied der Führungsriege der Muslimbruderschaft – in Graz gelebt habe. Der Mursi-Vertraute erhielt eine führende Rolle im Präsidentenumfeld und wurde schließlich in Kairo inhaftiert. Dessen Familie soll nach wie vor in Graz oder zumindest in der Steiermark wohnen. Zudem sollen weitere Vertraute Mursis zumindest eine Zeitlang in Graz gelebt haben.

Spezialgruppe für islamischen Radikalismus

Seitens der Grazer Staatsanwaltschaft heißt es: "Ja, es gibt hier eine Szene in Graz." Die Muslimbruderschaft sei in ganz Europa bestens vernetzt, und Österreich scheine "ein beliebter Ort" zu sein. Warum ausgerechnet Graz? Auch das sei Gegenstand der Ermittlungen, heißt es. Graz gilt schon seit Jahren als Sammelpunkt nicht nur der Muslimbruderschaft, sondern auch als Hotspot diverser Zellen radikaler Islamisten. Hier fanden zuletzt auch große Strafprozesse gegen führende Köpfe der radikalen Jihadistenszene statt.

Die Staatsanwaltschaft Graz hat eine eigene Spezialgruppe gegründet, die ausschließlich in Richtung islamistischen Radikalismus und -terrorismus ermittelt. (Laurin Lorenz, Walter Müller, Gabriele Scherndl, 9.11.2020)