Der Kampf gegen extreme Armut, definiert als Einkommen unter 1,90 US-Dollar, hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht: Lebten 1990 noch über 35 Prozent der Weltbevölkerung unter derartigen Bedingungen, waren es zuletzt unter zehn Prozent. Der Weg zum globalen Ziel für nachhaltige Entwicklung, die extreme Armut bis 2030 auf unter drei Prozent zu senken, ist dennoch ein weiter. Und er wurde durch Corona zusätzlich erschwert, wie anhand untenstehender Grafik ersichtlich ist: Etwa 150 Millionen Menschen wurden durch die Pandemie zurück in extreme Armut geworfen, Corona-bedingte Schulschließungen machen es gerade für Kinder in Armut schwieriger, der Armut durch Bildung zu entkommen, und es ist zu befürchten, dass die Kosten der Pandemie zu Einsparungen bei den Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit führen werden.

Grafik: Konstantin Wacker

Wie soll dieser Herausforderung begegnet werden? Papst Franziskus hat neulich für Aufsehen gesorgt, indem er die Rolle der Marktwirtschaft in der Bekämpfung der globalen Armut hinterfragte: In einer Gesellschaft, die primär von Marktfreiheit und Effizienz regiert werde, hätten die Armen das Nachsehen; neoliberale Glaubensdogmen würden dieselben Rezepte für jegliche Frage liefern. Dies brachte ihm gehörige Kritik von marktliberaler Seite. So verwies etwa der Präsident des Münchner Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, Clemens Fuest, darauf, dass hunderte Millionen Menschen der Armut durch Markt und Globalisierung entkamen. Franz Schellhorn von der marktliberalen Agenda Austria sieht "erdrückende Beweise", dass durch den Freihandel nahezu eine Milliarde Menschen in den letzten 30 Jahren den Weg aus extremer Armut gefunden hätten. Leider beschränken sich die erdrückenden Beweise in den Ausführungen der beiden Herren auf den Verweis auf Venezuela, frei nach dem Motto "Freihandel oder Barbarei", als gäbe es zwischen marktliberaler Doktrin und dem vermeintlich sozialistischen Chaos von Maduro keine Nuancen.

Unterschiedliche Ländererfahrungen

Dabei ist gerade Venezuela ein interessantes Negativbeispiel, wenn man die Antipoden "sozialistischer Staat" und "liberaler Markt" für die Armutsbekämpfung gegenüberstellen will. Das Land war, bis Hugo Chavez zum Präsidenten gewählt wurde, ein Paradebeispiel (neo-)liberaler Marktwirtschaft. Zwar erzielte es damals pro Kopf die höchste Wirtschaftsleistung Lateinamerikas; der Anteil der Menschen, die in diesem Ölreichtum in extremer Armut leben mussten, lag damals aber bei 13 Prozent und damit im Durchschnitt der gesamten Region, die viel niedrigere Einkommensniveaus verzeichnete.

Venezuela kann also ebenso wenig als Argument für eine "große Theorie" der Armutsbekämpfung herhalten wie ein Blick auf jene Länder, die seit der Jahrtausendwende herausstechende Erfolge in der Reduktion extremer Armut verbuchten. Auch hier zeigt sich ein differenziertes Bild. Die Beispiele China oder Vietnam sind hinlänglich bekannt; dass sie von Markt- wie Staatsgläubigen gleichermaßen als Beispiel für die eigene Doktrin herangezogen werden, verdeutlicht die Komplexität der Thematik. Besonders spannend ist daher Äthiopien, das den Anteil der Menschen in extremer Armut zwischen 1999 und 2015 von 61 Prozent auf 27 Prozent reduzieren konnte. Der Außenhandel hat für diesen Erfolg keine Rolle gespielt: Er ist seit einem Jahrzehnt, gemessen an der Wirtschaftsleistung, rückläufig; Handelszölle betrafen 2019 13 Prozent des Handelsvolumens und waren damit deutlich höher als im Durchschnitt 1993–2003 (4,5 Prozent). Seit 2003 gab es kaum marktfreundliche oder institutionelle Reformen. Demgegenüber steht die Erfahrung des traditionell marktliberalen Indien, welches extreme Armut etwa gleich schnell reduzierte wie China. Es zeigt sich also, dass mit einzelnen Länderbeispielen sehr unterschiedliche große Erzählungen verkauft, aber auch widerlegt werden können.

Was sagen die Fakten aus 71 Entwicklungsländern?

Um ein breiteres Bild über die wichtigsten Faktoren in der Armutsbekämpfung zu generieren, untersuchten wir daher in einem Forschungspapier den Fortschritt in der Armutsbekämpfung von 71 Entwicklungsländern. Wir identifizieren dabei Entwicklungsländer, die hinter den Erwartungen in Sachen Armutsbekämpfungen zurückblieben (zum Beispiel Mexico, Kenia, Georgien, Jemen) – oder die Erwartungen übertrafen (zum Beispiel Bhutan, Äthiopien, Tschad). Ferner untersuchen wir die wesentlichen makroökonomischen Gründe dafür und nutzen die Tatsache, dass sich Armutsreduktion in zwei Anteile zergliedern lässt: jenen, der aus Wirtschaftswachstum resultiert, und jenen, der auf eine Reduktion der Einkommensungleichheit zurückzuführen ist.

Speziell hat uns dabei die Frage interessiert, ob es unterschiedliche Muster in der Armutsreduktion zwischen den Ländern gibt. Es ließe sich zum Beispiel erwarten, dass politisch links stehende Regierungsparteien oder Länder mit höheren Staatsausgaben Armutsreduktion verstärkt durch Umverteilung erreichen. Dies könnte wiederum auf Kosten der Armutsreduktion durch Wirtschaftswachstum erkauft sein. Unter anderem untersuchten wir auch die Rolle von Demokratie, Institutionen oder der Zusammensetzung der Staatsausgaben.

Nigeria ist das Land mit der höchsten Anzahl an in extremer Armut lebenden Menschen, nämlich mehr als 100 Millionen.
Foto: Ifiok Ettang / AFP

Der resultierende empirische Befund ist eindeutig: Es gibt kein klares Muster in den Daten. Mit anderen Worten: Ländergruppen, die angesichts der politischen Einstellung ihrer Regierungsparteien oder einer speziellen Rolle des Staates in Sachen Armutsbekämpfung klar herausstechen, gibt es nicht. Die einzige Auffälligkeit ergibt sich für sogenannte "Fragile States", Länder, wo der Staat versagt oder essenzielle Staatsfunktionen nicht (mehr) wahrnimmt. Unter den Ländern, welche die Erwartungen in Bezug auf Armutsreduktion übertreffen konnten, befindet sich ein auffällig hoher Anteil an Staaten, die sich in dieser Hinsicht verbesserten (zum Beispiel Bhutan, Liberia, Tadschikistan). Auf der anderen Seite sind Länder, deren Armutsbekämpfung angesichts von Wirtschaftseinbrüchen hinterherhinkt, überproportional häufig von erhöhter Fragilität betroffen (zum Beispiel Elfenbeinküste, Jemen). Ganz ohne staatliche Ordnung scheint es also nicht zu gehen, aber das würde auch kaum ein Marktliberaler behaupten.

Letztlich zeigt sich auch ein gewisser sozialpolitischer Zielkonflikt in den Daten: In Entwicklungsländern, die Armut überproportional durch Umverteilung reduzierten, ging dies zulasten der Armutsreduktion durch Wirtschaftswachstum. Quantitativ ist dieser Zusammenhang allerdings etwa 1:1, sodass ein zusätzlicher Prozentpunkt Armutsreduktion durch überproportionale Umverteilung einem Anstieg der Armut um einen Prozentpunkt durch geringeres Wirtschaftswachstum entspricht. Gesamt entsteht somit ein Nulleffekt bezüglich Armutsreduktion durch überproportionale Umverteilung; für durchschnittliche Umverteilungspolitiken besteht dieser Zielkonflikt jedoch nicht.

Pragmatik in der Praxis

Der Grund für diese Ergebnisse könnte eine gewisse Pragmatik in der Politik sein: Die durch extreme Armut entstandenen sozialpolitischen Probleme wurden in vielen Ländern so gravierend, dass für ideologische Scheuklappen kein Platz war. Das zeigt sich unter anderem in Lateinamerika, wo um die Jahrtausendwende auch dezidiert konservative Regierungen umfangreiche Sozialprogramme in die Tat umsetzten. Andererseits wissen progressive Regierungen zunehmend um die Notwendigkeit von Wachstumspolitik, gerade in den ärmsten Ländern der Welt.

Die Maduro-Venezuelas sind rar geworden. Aber auch die radikalen Marktwirtschaften, aus denen sie erwuchsen. Zumindest bis vor kurzem. (Konstantin Wacker, 10.11.2020)

Konstantin Wacker ist Assistenzprofessor an der Universität Groningen. Er forscht insbesondere zu multinationalen Unternehmen, makroökonomischen Entwicklungsfragen und Exportqualität.
Foto: privat