Nachhaltigkeit ist ein komplexes Terrain.

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Wie halten Sie es mit der Nachhaltigkeit in der Corona-Krise?" Das war die zentrale Frage in einer Onlinekonferenz mit Führungskräften aus zehn Unternehmen, die sich auf ihrer Website als nachhaltig ausweisen: "Unser Nachhaltigkeitsmanagement orientiert sich weiterhin konsequent an CSR – Corporate Social Responsibility – und den SDG – Sustainable Development Goals." "Wir nutzen die Kategorien des DNK (Deutscher Nachhaltigkeitskodex)." Das sind erfreuliche Befunde. Lediglich zwei Führungskräfte bekannten etwas zerknirscht, dass leider die Arbeit daran "derzeit warten" müsse. Alle anderen sprudelten: Lieferketten kritisch hinterfragen, den CO2-Emissionen hinterherjagen, neue Ideen der Abfallentsorgung und der Kreislaufwirtschaft entwickeln, Produktionsprozesse umbauen.

Obwohl allen bewusst ist, dass Nachhaltigkeit ein integratives, ganzheitliches Steuerungsverständnis erfordert, zeigt die Praxis, so das Ergebnis des Dialogs: Technologische, strukturelle, ökonomische und soziale Aspekte werden nach wie vor unabhängig voneinander betrachtet. Theorie und Praxis unterscheidet sich auch hier. Auf Konferenzen und in Medien hört man die große Erzählung, die Transformation zu einem nachhaltigen Unternehmen könne nur durch vernetztes Denken bewältigt werden: durchein gemeinsam geteiltes Verständnis von Werten, Spielregeln, durch konstruktiven Streit über Märkte, Kundinnen, durch Verantwortung (Mindset), durch Reflexion der Wirkung von Führung und Entscheidungsprozessen sowie durch Kommunikation (was wird wie von wem erzählt) und durch Kooperation (was wird beachtet und berücksichtigt).

Andere Praxis

Allein diese Aufzählung macht verständlich, warum die Praxis anders aussieht. Funktionale Bereiche, die jeweiligen Fachlogiken, sind einfacher zu managen. Es überrascht daher nicht, dass viele Führungskräfte Interdisziplinarität und Transdisziplinarität einfordern, aber diese selten in Organisationen gelebt wird. Das liegt auch an Furcht davor, dass Unterschiede und Widersprüche dann in der Organisation ihre Dynamik entfalten könnten.

Volatilität, Ungewissheit, Komplexität, Ambiguität werden durch ein "Invisibilisieren" nicht verschwinden. Da ist es klüger, sich im Möglichkeitsdenken, im Suchen und Entdecken von neuen Zusammenhängen zu üben.

Die neugierig staunende Zusammenschau unterschiedlicher Perspektiven und Expertisen und das Erforschen von "Zwischenräumen" werden zur Voraussetzung für jedes halbwegs vernünftige Erkennen und Verstehen, für jede halbwegs taugliche Problemlösung. Vernünftig steht für einen passenden Bezug zum Kontext und Offenheit gegenüber noch nicht Gedachtem. Tauglich steht für "unterschiedliche Aspekte berücksichtigen", für rasches Adaptieren von Lösungen. Die Entwicklung dieser Kompetenzen erfordert selbst interdisziplinäre, offene Prozesse, das Erproben neuer Kooperationsformen und das Vertrauen in Selbstorganisation.

Denkweisen hinterfragen

Zusatznutzen sind garantiert: Mit Nebenwirkungen wird gerechnet (im wahrsten Sinn), Schwierigkeiten, Widersprüche werden – um der Vereinfachung willen – nicht ausgeblendet, sondern in Lösungen integriert, das macht sie robuster und agiler. Jedoch: Durch die Entwicklung und Anwendung innovativer digitaler Technologien und den damit einhergehenden Wandel zu einer digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft geraten etablierte Strukturen, Denkmuster und Routinen in Unternehmen und ihren Wertschöpfungsnetzwerken unter Veränderungsdruck. Angesichts der Tragweite und des Einflusses, den diese Entwicklung auf das Management von Unternehmen hat, gilt es, die bestehenden Strategien und Denkweisen zu hinterfragen.

Lassen sich Unternehmen auf Nachhaltigkeitsstrategien ein, begeben sie sich auf ein komplexes Terrain. Kaum ein Aspekt kann ausgeklammert, zurückgestellt werden: Chemische, biologische Prozesse, technologische Möglichkeiten, ökonomische Risikodimensionen, Machtfragen, individuelle Eigenheiten, gesellschaftliche, politische, soziologische Dynamiken, rechtliche Erfordernisse müssen berücksichtig werden. Die damit verbundenen Widersprüche lassen sich selten mit Kompromissen lösen, sondern erfordern das Entdecken neuer Zusammenhänge und das Wagnis noch nicht begangener Lösungswege.

Mögliche Verfahren und Methoden für dieses neue Terrain:

  • Ökologische Dialoge Mitarbeiterinnen, Kundinnen, Lieferantinnen und interessierte Wissenschafterinnen und Künstlerinnen entwickeln Ideen und erste Konzepte.
  • Kleine, interdisziplinäre Teams arbeiten selbstorganisiert an Fragen und haben die "Erlaubnis", Prototypen zu entwickeln.
  • Future-now-Teams leben im Hier und Jetzt vor, wie in Zukunft nachhaltig geführt wird.
  • Zwei Fragen Strategische und operative Entscheidungen orientieren sich an zwei Prinzipien: "Wovon leben wir?" Diese Frage berührt Herz, Hirn und körperliche Erfahrungen, erweitert den Kontext und stimuliert neue Perspektiven. Der Leitsatz "Es ist schön, sich um die Erde sorgen zu dürfen", überwindet das Mangeldenken. (Michael von Kutzschenbach, Herbert Schober-Ehmer, 12.11.2020)