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Der "Spiegel" sorgte in den letzten Wochen zweimal mit provokanten Interviews für Aufsehen.

Foto: AP

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen sorgt Der Spiegel mit einem Interview für Gesprächsstoff zum Thema Sexismus. Die ehemalige FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin spricht in dem Interview über ihre im vergangenen Herbst diagnostizierte Brustkrebserkrankung. Es geht um Krankheit, Therapie und Verlauf, um körperliche und seelische Folgen, Auswirkungen auf ihre Karriere und das Tabuthema Brustkrebs. Es ist sehr lange ein einfühlsames und aufschlussreiches Gespräch.

Dann schwenkt Interviewer Hajo Schumacher um, spricht Koch-Mehrin als "liberale Superfrau" an, "bei der Karriere, Familie, Frisur immer perfekt aussahen. Sie haben sich auch ganz gern so inszeniert."

Verzerrte Wahrnehmung

"Was hat der Brustkrebs mit Ihrem Gefühl von Weiblichkeit gemacht?", will Schumacher wissen. Koch-Mehrin antwortet mit einer Gegenfrage: "Höre ich da eine Männerwahrnehmung? Auf dem Kopf lange Haare und an den Beinen keine? Nur mit Brüsten eine Frau? Das ist doch Unsinn." Und es geht noch weiter.

"Sie haben, ob Sie wollten oder nicht, früher das Stereotyp der klassischen Blondine bedient. Was haben Glatze und Perücke mit Ihnen gemacht?", will der Fragesteller wissen. Koch-Mehrin antwortet kämpferisch: "Klischees zu bedienen gehört hier offenbar immer noch zum journalistischen Standardrepertoire." Koch-Mehrin verweist in dem Zusammenhang auf das Spiegel-Interview mit der Virologin Sandra Ciesek im Oktober. Ciesek liefert seit September alternierend mit Christian Drosten im bereits preisgekrönten NDR-Podcast Coronavirus-Update im Zweiwochenrhythmus wissenschaftliche Kontexte zur Corona-Pandemie. Das von Veronika Hackenbroch und Rafaela von Bredow geführt Interview beginnt mit der Frage: "Ihnen ist klar, dass Sie die Quotenfrau sind?" Das Gespräch schlug ebenfalls in sozialen Medien Wellen.

"Frauen, die Karriere machen, immer noch etwas Besonderes"

Für die deutsche Medienwissenschafterin Elizabeth Prommer sind solche Interviews Ausdruck "unbewusster Wahrnehmungsverzerrung". Dass ausgerechnet "Männer, die sich selbst für aufgeklärt halten, Frauen über das rein Äußerliche definieren", sei nicht selten. "Für solche Männer sind Frauen, die Karriere machen, immer noch etwas Besonderes." Im Journalismus sei das offenbar auch nicht anders. Dass Der Spiegel hier besonders auffalle, findet sie nicht unbedingt. Ähnliche Zugänge beobachtet sie immer wieder auch in anderen Medien.

Im Interview mit Koch-Mehrin geht Schumacher weiter in die Offensive: "Nun ist aber gut. Sie haben das Blondinenspiel schon sehr gut beherrscht. Sie wussten genau, dass sich in einer Männerpartei viel Aufmerksamkeit auf Sie richtet, dass Sie als Mann nicht so fix an die Spitze der FDP marschiert wären. Genau deswegen haben die Neider Sie doch 2011 alleingelassen und vergnügt fallen sehen, als mal Loyalität gefragt war." Die Interviewte geht darauf gar nicht mehr ein, sondern plädiert für "Zugang zu erstklassiger Gesundheitsversorgung", "unabhängig vom Geldbeutel". Woraufhin ihr Schumacher vorwirft, jetzt klinge sie wie Karl Lauterbach*.

"Souverän reagiert"

Koch-Mehrin habe "souverän reagiert", urteilt Prommer. Frauenfeindliche Fragen kennt die Medienwissenschafterin aus eigener Erfahrung. "Wir sind ja diese Fragen gewohnt. Einer der Klassiker, der immer wieder kommt, ist, wie man Karriere mit Kindern macht. Eine Politikerin sagte dazu einmal scherzhaft: Ich stelle die Kinder morgens in den Schrank und hole sie abends wieder raus." Worauf Prommer hinauswill: "Fragen Sie das meine Kollegen auch?"

Diese Frage sollten sich auch Medienarbeiter immer wieder stellen, empfiehlt Prommer: "Journalistinnen und Journalisten können sich überprüfen: Würden sie diese Frage auch Männern stellen?"

"Frech" und "provokant"

Prommer forscht zum Thema Frauen in Medien. Gemeinsam mit der Malisa-Stiftung der Schauspielerin Maria Furtwängler veröffentlichte sie unter anderem eine Studie über audiovisuelle Diversität. Für Aufsehen sorgte 2017 ein TV-Interview, in dem der ZDF-Journalist Claus Kleber Furtwängler fragte, ob sie das Publikum umerziehen wolle.

Bei Ciesek hat Der Spiegel sich nicht entschuldigt, eine Frage wurde konkretisiert, ansonsten wurde der Stil von den Fragestellerinnen als "frech" und "provokant" verteidigt. "Warum muss man uns provokant fragen?", will Prommer wissen. "Wissenschafterinnen sind keine Medienprofis. Wer traut sich schon zu sagen, das ist eine unfaire Frage?"

"'Spiegel' ist ein mächtiges Magazin"

Einwänden, wonach sowohl Ciesek als auch Koch-Mehrin die Interviews vor Abdruck gelesen und freigegeben hätten, wie das in Deutschland so Praxis ist, entgegnet Prommer: "Was kannst du machen? Sagen, ich ziehe das Interview zurück? Der Spiegel ist ein mächtiges Magazin. Wer traut sich schon zu sagen, mach das anders? Da vergisst Der Spiegel, dass die meisten seiner Interviewpartner keine Pressestellen haben. Hey, ich bin Uniprofessorin und forsche mit meinem Team, es ist nicht mein tägliches Geschäft mit Medien zu sprechen." (Doris Priesching, 9.11.2020)

Update 10.11.202, 10:52: Die ehemalige FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin verteidigt das Interview, Hajo Schumacher weist die Vorwürfe zurück. Zum Nachlesen hier.

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