Kein einheitliches Vorgehen gibt es derzeit in Europa in der Frage des Offenhaltens beziehungsweise Schließens von Schulen.

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Wien – Einen deutlich strengeren Lockdown als derzeit fordert eine Gruppe österreichischer Wissenschafter unterschiedlicher Fachrichtungen. Sie sprechen sich in einer Aussendung für die sofortige Schließung aller Schulen, die "Pflicht zu Homeoffice, wo immer möglich", sowie die Erhöhung des Mindestabstands von einem auf zwei Meter aus, andernfalls würden Österreich überlastete Spitäler und Triage drohen.

"Der 'Lockdown light' setzt, im Gegensatz zum rigorosen Lockdown im Frühjahr, teils auf die falschen Maßnahmen und ist viel zu locker", meinen der Mathematiker Peter Markowich, der Informatiker Georg Gottlob und die beiden Physiker Christoph Nägerl und Erich Gornik, allesamt Träger des Wittgenstein-Preises, des höchsten Wissenschaftsförderpreises Österreichs. Sie sehen daher "nach aller wissenschaftlicher Evidenz Österreich seit Wochen ungebremst in die Katastrophe überlasteter Spitäler fahren, wo Ärzte Triage machen und PatientInnen unbehandelt sterben lassen müssen".

Folgen eines zu "weichen" Lockdowns

Nach Ansicht der vier Wissenschafter sind Schulen "einer der Treiber von respiratorischen Viren, das ist eine bewiesene Tatsache. Österreichische Studien, die das Gegenteil beweisen wollen, sind methodisch falsch beziehungsweise überholt." Aussagen wie "Die Schulen sind besonders sichere Orte" seien nicht aufrechtzuerhalten. Sie empfehlen daher, alle Schulen sofort zu schließen und Unterricht – wo möglich – online abzuhalten. Die Schulen seien nicht die alleinige Ursache der Explosion der Fallzahlen, aber "ganz sicher ein signifikanter Beitrag" und "eine der effektivsten Einzelmaßnahmen überhaupt".

Weiters empfehlen sie, den Mindestabstand von einem auf zwei Meter zu erhöhen. Auch Betriebe sollten sofort herunterfahren, speziell Großraumbüros, und eine "Pflicht zu Homeoffice, wo immer möglich", eingeführt werden.

Mit jedem Tag eines "weichen" Lockdowns werde der Schaden für die Wirtschaft und für die Gesellschaft, inklusive der Kinder, größer. "Auch wenn alle großen Nachteile der Schulschließungen berücksichtigt werden, wiegt die Katastrophe der Überlastung der Spitäler schwerer. Alle, die jetzt gegen Schulschließung reden, müssen dazusagen, dass sie damit für Triage spätestens ab 18. November sind", meinen die Wissenschafter.

Österreichs Bildungsministerium verweist auf Anfrage auf die "vielfältige Forschungslage zu dem Thema". Wichtig sei, die Balance zwischen Gesundheitsschutz und den berechtigten Interessen auf Bildung herzustellen", betont man im Ministerium.

Folgen der Schulschließungen

Denn es gibt auch Akteure, die zurzeit alarmiert vor Schäden durch Schließungen im Bildungsbereich warnen: Die negativen Effekte von Schulschließungen im Zuge des Lockdowns könnten noch größer sein als bisher angenommen, warnt etwa der wirtschaftsliberale Thinktank Agenda Austria im "Kurier". Der Ökonom Hanno Lorenz zieht dazu eine Studie der Oxford-Universität heran, die sich mit der achtwöchigen Schulschließung in den Niederlanden auseinandersetzt. Dort wurden vor und nach dem Lockdown bundesweite Tests bei rund 350.000 Schülern durchgeführt. Das Ergebnis der Tests war demnach, dass die Schüler nur einen kleinen oder gar keinen Bildungsfortschritt aufwiesen. Im Vergleich zu einem normalen Schuljahr wurde offenbar ein Bildungsverlust von 20 Prozent nachgewiesen. Kinder aus bildungsfernen Familien hatten noch schlechtere Werte. Die Forscher von Oxford gehen davon aus, dass der Lernverlust in Ländern, die schlechter auf Distance-Learning vorbereitet waren, wie auch Österreich, noch deutlich höher sein wird. Die OECD geht von einem Lernverlust in der Höhe eines Drittels aus, das wäre für Österreich "sehr optimistisch", meint Lorenz von der Agenda Austria. Es gebe derzeit keine Maßnahmen, um solche Verluste abzufedern.

Auch aus ökonomischer Sicht zögen Schulschließungen "hohe individuelle und gesellschaftliche Kosten nach sich". Zu dieser Schlussfolgerung kommt ein "Research Brief" des Wifo. Diese Kosten könnten sowohl direkt über Einkommenseinbußen entstehen oder indirekt etwa über steigende Gesundheitskosten wegen fehlender Bewegung oder psychischer Belastung. Besonders betroffen dürften jüngere Kinder sein, die noch umfassende Unterstützung beim "Erlernen von Lernen" benötigen.

Negative Folgen gäbe es außerdem für Zulieferbetriebe – also etwa Betreiber von Fahrtendiensten, Bäckereien oder Gastrobetriebe, die Schulessen bereitstellen. Langfristige ökonomische Effekte würden für Unternehmen beziehungsweise die Gesellschaft auch entstehen, wenn der Anteil von Schülern mit unzureichenden Basiskompetenzen weiter steigt – das habe Konsequenzen auf das Angebot an Fachkräften wie für Innovationen.

Unterschiedliches Vorgehen in Europa

Noch sind die Schulen in den meisten großen Ländern Europas geöffnet – Tschechien, Slowenien oder Polen dagegen schlossen sie. In Tschechien wächst allerdings der Druck der Kritiker der Schulschließung, in Belgien wurden die Herbstferien bis Ende dieser Woche verlängert – ab nächster Woche soll aber wieder Unterricht stattfinden.

Eine dritte Gruppe – darunter auch Österreich – differenziert nach Alter und ordnet Distance-Learning für ältere Schüler an. Ähnlich ist es auch in Italien. In Griechenland und der Slowakei haben derzeit nur die Volksschulen geöffnet. (red, APA, 9.11.2020)