Der Erfolg des "Crazy Blues" von Mamie Smith bewies erstmals und unwiderruflich, dass es einen Markt für originär schwarze Musik gab.

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Mit Kamala Harris haben die USA die erste nicht-weiße weibliche Vizepräsidentin ihrer Geschichte. Ihr Erfolg zeige, dass es ein Land der Chancen sei, sagte sie in ihrer Siegesrede. Damit reiht sich Harris in eine lange Tradition schwarzer Frauen, die die ihnen auferlegten Grenzen sprengten. Die Pionierleistung einer anderen feiert gerade ihr hundertjähriges Jubiläum, der Crazy Blues der Mamie Smith.

Die meisten großen Namen des Blues gehören Männern: Muddy Waters, Howlin’ Wolf, B. B. King, Robert Johnson … – doch lange bevor es normal war, dass schwarze Musiker ins Studio gingen, um ihren Schmerz oder ihren Jubel in dieser Form zu dokumentieren, war das Fach weiblich geprägt. Und es war eine Frau, der es gelang, den Markt für ein schwarzes Publikum überhaupt erst zu definieren: Im November 1920 erschien Mamie Smith’ zweite Platte mit dem Titel Crazy Blues – und wurde ein Hit.

Es war eine Geburt gegen den Widerstand des weißen Musikgeschäfts. Das glaubte nicht daran, dass Schwarze an Musik von ihresgleichen Interesse haben könnten. Eine überhebliche Haltung, die sich unter anderem darin äußerte, dass Schwarze zwar schon zuvor Platten aufgenommen hatten, doch waren das meist Versuche im klassischen Fach gewesen, Interpretationen weißer Unterhaltungsmusik oder satirische Novelty-Songs. Denn bevor man einen Schwarzen aufnahm, ließ man lieber einen rachitischen Iren mit geschwärztem Gesicht dessen Lieder singen. Mamie Smith bereitete dem ein Ende.

Eine Geburtsstunde der Popmusik

Sie nahm den ersten Blues mit einer schwarzen Band auf und änderte das Musikbusiness damit für immer. 75.000 Mal soll sich die drei Monate zuvor in New York mit dem Songwriter und Bandleader Perry Bradford aufgenommene Platte bis zum Jahresende verkauft haben, über eine Million Mal innerhalb des ersten Jahres. Das sind enorme Zahlen, wenn man bedenkt, wie wenige Menschen damals überhaupt Abspielgeräte besaßen, erst recht die wirtschaftlich benachteiligten Schwarzen.

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Smith’ Erfolg wurde zu einer der Geburtsstunden der Popmusik. Noch bevor Kolleginnen wie Bessie Smith, Ma Rainey oder Ethel Waters ihrerseits mit Aufnahmen populär wurden, trat die 1891 in Cincinnati, Ohio, als Mamie Robinson geborene Sängerin die Tür ein – allen Boykotten und Drohungen an den weißen Perry Bradford zum Trotz.

Ein ganz normaler Beziehungssong

Der Crazy Blues ist ein Trennungssong. Er thematisiert häusliche Gewalt, Untreue, Rache und Mord. 16 Jahre bevor ein Robert Johnson seinen ersten Titel ins Aufnahmegerät sang und aus der Perspektive einer Frau erzählt, ergab das eine doppelte Revolution. Die Geschichte des Crazy Blues belegt die Bedeutung schwarzer Kultur, die sich gegen systematischen Rassismus und Lynchmobs durchgesetzt hat und ab den 1960ern die Unterhaltungsmusik dominierte: 45 Jahre nach Smith’ Aufnahme verkaufte das schwarze Independent-Label Motown in Detroit mehr Platten als all seine Konkurrenten.

Mit ihrer Band, den Jazz Hounds war Smith Teil der Roaring Twenties.
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Der auf OKeh Records erschienene Crazy Blues machte Smith berühmt und wohlhabend, ohne dass sie dafür vor die Tür gehen musste. Davor waren schwarze Blues-Sängerinnen und -Sänger auf das beschwerliche und gefährliche Live-Geschäft angewiesen, das oft mit zwei Beinen in der Halbwelt stand. Da wurden Gagen nicht unbewaffnet ausgehandelt oder eingetrieben. Nun tat sich ein neuer Markt auf, der schwarze Stars hervorbrachte: der Tonträgermarkt.

OKeh reagierte auf den Boom und vermarktete diese Künstler unter dem 1922 etablierten Begriff "Race Music". 1949 ersetzte ihn der Musikproduzent Jerry Wexler durch "Rhythm and Blues", das seiner Meinung nach zeitgemäßer und treffender klang und keinen rassistischen Beigeschmack besaß.

Hoffnung und Geschäft

Der Crazy Blues wurde zum Phänomen, weil sein Publikum nicht damit gerechnet hatte. Schwarze Frauen identifizierten sich damit, selbst für schwarze Männer war ein Star im Unterhaltungsgeschäft aus den eigenen Reihen neu und eröffnete Perspektiven. Der Erfolg des Liedes stimulierte Hoffnungen und Träume und wurde als Geschäftschance erkannt und zum Wirtschaftsfaktor.

Da es keine schwarzen Vertriebe gab, entwickelte sich ein Distributionssystem über Zeitungsstände und den Einzelhandel. Sogar Schuhputzer sollen neben ihrer Dienstleistung noch ein paar schwarze Scheiben verkauft haben. Findige Unternehmer bemühten sich, dieses Geschäft bald zu übernehmen.

Aufbruch und Lebensfreude

Mamie Smith führte derweil ein luxuriöses Leben. Mit ihrer Band, den Jazz Hounds, tourte sie durch die USA und Europa und war Teil jener Kultur, die als Roaring Twenties für gesellschaftlichen Aufbruch und Lebensfreude stand. Sie spielte mit den Größen ihrer Zeit und trat 1929 in einem der ersten Tonfilme auf: Jailhouse Blues.

Anfang der 1930er setzte sie sich zur Ruhe, um nach ein paar Jahren doch wieder aufzutreten und Filme zu drehen. 1946 starb sie, angeblich verarmt, im Alter von 55 Jahren in New York. Als der Blues in den 1960ern ein Revival feierte, waren es weitgehend männliche Vertreter des Fachs, die seine Identität bestimmten. Doch sie alle folgten einer Frau, die diese Musik als erste auf die große Bühne gebracht hatte. (Karl Fluch, 10.11.2020)