Seit der Wahl in der äthiopischen Region Tigray im September haben die Spannungen zugenommen. Vielen Menschen droht nun wieder Vertreibung.

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Äthiopiens Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed ist auf dem besten – oder besser: schlechtesten – Weg, sich in einen Kriegsfürsten zu verwandeln. Seit seine Streitkräfte am vergangenen Mittwoch in die Provinz Tigray einmarschierten, präsentiert sich der 44-jährige Regierungschef bei TV-Auftritten statt im Anzug in einer schwarzen Bomberjacke und zeigt allen Aufrufen, den Konflikt mit dem Brudervolk durch Verhandlungen zu lösen, die kalte Schulter.

In den vergangenen Tagen eskalierte der Premierminister den Waffengang mit Luftangriffen auf Ziele in der Nordprovinz des Landes und ersetzte mehrere Schlüsselpositionen seines Staates – wie den Armeechef, den Außenminister und den Geheimdienstchef – mit Falken. In seiner Ansprache zur Entgegennahme des Friedenspreises hatte Abiy den Krieg im vergangenen Jahr noch als "Inbegriff der Hölle" bezeichnet: Jetzt scheint er ihn als Fortsetzung seiner Politik mit anderen Mitteln zu sehen.

Militäraktionen Abiys

Am Samstag setzte das Parlament in der Hauptstadt Addis Abeba Tigrays Provinzregierung ab: Die Voraussetzung dafür, dass Abiy eine ihm genehme Administration einsetzen kann. Gespräche mit der bislang regierenden Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF) werden dadurch ausgeschlossen: Diese waren sowohl von UN-Generalsekretär António Guterres als auch von der Afrikanischen Union gefordert worden. Stattdessen wetterte Abiy, dass "kriminelle Elemente dem Recht nicht unter dem Deckmantel der Versöhnung" entkommen könnten: Die Militäraktion werde die "Straflosigkeit" beenden, die schon "viel zu lange" angehalten habe.

Schwere Kämpfe

Aus der Provinz selbst werden unterdessen täglich teils schwere Kämpfe gemeldet. Weil die Mobilfunk- und Internetverbindungen nach Tigray unterbrochen wurden, sind Details über die dortige Lage kaum zu erhalten. Einheimische Ärzte und Mitglieder ausländischer Hilfsorganisationen berichten von dutzenden Toten und hunderten Verletzten – vor allem Soldaten –, die in umliegende Krankenhäuser eingeliefert worden seien.

Die Kämpfe konzentrieren sich offenbar im Westen der Provinz: Dort hätten die Streitkräfte bereits vier Ortschaften eingenommen, heißt es in Addis Abeba. Außerdem habe die Luftwaffe so gut wie alle schweren Waffen der Aufständischen zerstört.

Entscheidend ist die Beantwortung der Frage, wie sich der in Tigrays Hauptstadt Mekele stationierte "Northern Command" verhält, eine von vier Divisionen der Streitkräfte Äthiopiens. Nach Angaben der TPLF sind sämtliche Soldaten des Northern Command zu den aufständischen Tigray übergelaufen: Beobachter halten es für wahrscheinlich, dass das zumindest für einen Teil der Uniformierten gilt, nämlich diejenigen, die dem Volk der Tigray angehören. Sie machen rund sechs Prozent der äthiopischen Bevölkerung aus, waren in den vergangenen drei Jahrzehnten jedoch überproportional stark in den Streitkräften und der Zentralregierung vertreten. Erst Abiy, der väterlicherseits dem Mehrheitsvolk der Oromo und mütterlicherseits den Amhara angehört, drängte den Einfluss der Tigray in jüngster Zeit stark zurück: der Hintergrund für den derzeitigen Konflikt.

Hoffnungsvolle Ansätze

Nach seinem Amtsantritt im April 2018 hatte sich der ehemalige Geheimdienstoffizier mit zahlreichen hoffnungsvollen politischen Initiativen ausgezeichnet: Er ließ die politischen Häftlinge frei, schloss Frieden mit dem Nachbarstaat Eritrea, nahm viele Frauen in seine Regierung auf und machte sich an eine Liberalisierung der verkrusteten Wirtschaft. Sein Versuch, aus dem Vielvölkerstaat mit starken föderalistischen Zentrifugalkräften einen einheitlichen Nationalstaat zu machen, stößt jedoch nicht nur in Tigray auf zunehmenden Widerstand. "Abiy wird als Reformer schwer überschätzt", meint Tsedale Lemma, Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenmagazins "Addis Standard". "Abiy driftet leider in einen kompromisslosen Autoritarismus ab." Die Vereinten Nationen warnen vor einer Flüchtlingskrise. (Johannes Dieterich, 10.11.2020)